Veröffentlicht am Sonntag, 17. September 2017 um 20:00
von Georg Renöckl
„Wir wollen unser Image nachhaltig korrigieren“, erklärt Thomas Malgras, Koordinator der Aktivitäten im Jubiläumsjahr, sein Budget von zwanzig Millionen Euro. Künstler von Weltrang wurden eingeladen, um die Stadt, die 1517 vom Renaissance-König François I. gegründet wurde und sich als Tourismus- und Wirtschaftsstandort neu positionieren will, ins rechte Licht zu rücken.
Nach wie vor gilt Le Havre als wenig attraktiv oder gar trist, gewöhnungsbedürftig ist das Stadtbild tatsächlich: 10 000 Tonnen Bomben warf die Royal Air Force im September 1944 über der von der Wehrmacht zur Festung erklärten Stadt ab. 5 000 Menschen starben in den Trümmern, die Geburtsstätte des Impressionismus, in der Monet sein berühmtes Bild „Impression, soleil levant“ malte, war ausgelöscht. Über 80 000 Menschen hatten ihre Wohnungen verloren.
Aufbau mit Beton
Mit dem Wiederaufbau wurde Auguste Perret beauftragt, ein Pionier des Bauens mit Beton. „Das Dumme war nur: Der damalige Bürgermeister von Le Havre hasste Beton“, berichtet Françoise Gasté über eine der Schwierigkeiten, mit denen der Architekt konfrontiert war. Madame Gasté führt durch die „Zeugen-Wohnung“, wie sie damals zu Tausenden gebaut wurden. Was im Inneren – neben den heute angesagten Nachkriegsmöbeln – sofort auffällt: Es gibt keine dunklen Gänge, bodentiefe Fenster sorgen für viel Licht und Frischluft.
„Das alte Le Havre war zwar schön, aber auch schmutzig und eng“, erklärt Françoise Gasté. „Perret und seine Mitarbeiter haben die Wohnblocks so angelegt, dass ein Maximum an Licht in großzügige, ruhige Innenhöfe fallen konnte.“ Die einst geschmähte Beton-Architektur wird heute geschätzt – nicht zuletzt, seit die Unesco 2005 das Stadtzentrum zum Weltkulturerbe erklärt hat.
Zum Beton Auguste Perrets gesellt sich in der Stadtmitte der Beton Oscar Niemeyers: „Le Volcan“ heißt das Kulturzentrum des brasilianischen Meisterarchitekten, das mit seinen runden Formen einen spannungsreichen Kontrast zu Perrets rechtwinkeliger Architektur darstellt und heute ein Nationaltheater sowie die städtische Bibliothek beherbergt. Hier beginnen vier Kunst-Spaziergänge, die die Stadt ihren Besuchern im Jubiläumsjahr vorschlägt. Nur ein Katzensprung ist es etwa zum Rathaus, von dort führt die Avenue Foch zur dem Meer zugewandten „Porte Océane“. Der Blick fällt auf die Balken der Skulptur „UP#3“ des Duos Lang & Baumann.
Daneben geben sich die traditionell weißen Strandhäuschen des Stadtstrandes heute bunt: Der Schwede Karl Martens ließ die Gründungsurkunde von 1517 durch Mathematiker in einen Farbcode übertragen und malte diesen auf die Strandhütten. Im Inneren der nahen Kirche Saint-Joseph lässt die japanische Textilkünstlerin Chiharu Shiota einen roten Wollwirbel namens „Accumulation of power“ aufsteigen – ein Anblick, von dem man sich kaum losreißen kann. Dabei wartet am nahen Hafen das Museum für moderne Kunst, in dem das Fotografen-Duo Pierre & Gilles eine Werkschau grell-bunter Porträts schillernder Persönlichkeiten zeigt.
Gegenüber steht Vincent Ganivets temporäre Installation, die das Zeug zum künftigen Wahrzeichen hat: Zwei Bögen aus bunt gestrichenen Containern, wie sie zu Zigtausenden tagtäglich hier auf- und abgeladen werden, bilden ein neues Eingangstor in die Stadt. Deren Prachtstraße, die Rue de Paris, führt zurück zu Niemeyers „Volcan“. Dort kann man zu weiteren Touren aufbrechen und die Stadt mit der schwierigen Geschichte als pulsierende Kulturmetropole neu entdecken.
„Wir haben Künstler von Weltrang nach Le Havre eingeladen, dabei aber klar gemacht, dass Le Havre nicht nur als Bühne dient, sondern im Zentrum steht“, erinnert Thomas Malgras an das von Jean Blaise erdachte Konzept. Kaum zu glauben, dass das alles nach wenigen Monaten wieder verschwinden soll. Malgras lächelt verschmitzt: „Wissen Sie, was es heißt, in einem denkmalgeschützten Ensemble eine Genehmigung für ein fixes Kunstwerk zu beantragen?“
Den Organisatoren sei früh klar geworden, dass sie ihr Programm nur dann würden umsetzen können, wenn es sich um zeitlich begrenzte Interventionen im öffentlichen Raum handelt. „Wir haben allerdings den Eindruck, dass sich die Bewohner der Stadt schon jetzt stark mit einigen Kunstwerken identifizieren. Ich glaube nicht, dass wir alle wieder abbauen müssen“, setzt Malgras auf die Volksseele.
Das Ende der Welt
Spaziert man am Meer entlang, vorbei an der neuen Strand-Skulptur und den bunten Strandhütten, erreicht man das „Ende der Welt“, wie der äußerste Strandabschnitt heißt. Er gehört zur Gemeinde Sainte-Adresse, deren Strand einem weiteren berühmten Bild Monets den Namen gibt und für seine ganz eigene melancholische Poesie bekannt ist: Nach dem Bombenhagel wurde hier der Schutt der zerstörten Stadt ins Meer gekippt. Über die Jahre schliffen die Gezeiten die Reste rund, sodass man immer wieder Strandkiesel findet, in denen noch eine alte Wandfliese oder ein Mauerrest erkennbar ist.
Heute sind diese Erinnerungsstücke des alten Le Havre bei Sammlern beliebt, auch wenn die „neue“ Stadt ihren Stolz längst wiedergefunden hat. „Wir denken, dass man 2017 in Le Havre und sonst nirgends gewesen sein muss“, verkündete Edouard Philippe, mittlerweile Frankreichs Premierminister, bei der Eröffnung der Feierlichkeiten.
Wer die Impressionen eines langen Tages in Le Havre in der Strandbar „Au bout du monde“ Revue passieren lässt, wo man sich nach der Strandwanderung eine längere Pause redlich verdient hat, wird ihm Recht geben.