Porträt
Die Sonne versinkt hinter den Dünen im Meer. Ein Wagen hält, eine Frau steigt aus, geht langsam zu einem der namenlosen Gräber, verharrt dort lautlos, so wie am Tag zuvor und auch am Tag davor. Seit Wochen geht das schon so; ein Mann beobachtet die Frau, tritt nun an sie heran. Und am Ende muss ein Mensch raus ins Watt gehen, muss eins werden mit dem Meer, muss verschwinden, damit er und auch sie ihren Frieden finden und nicht länger unerlöst über die Erde wandeln - so geht es zu in "Mitternachtsweg", dem neuen Roman des Hamburger Schriftstellers Benjamin Lebert, angesiedelt auf der Nordseeinsel Sylt.
Lebert, Benjamin? Genau - der von "Crazy", erschienen im heute so unfassbar weit entfernten Jahr 1999. 17 Jahre ist Lebert damals alt, er hat zuvor Artikel für das Jugendmagazin "Jetzt" verfasst, das sich die "Süddeutsche Zeitung" seinerzeit noch leistet und das sein Vater Andreas Lebert leitet. In 33 Sprachen wird sein Erstling übersetzt, verstärkt wird der Erfolg bald durch die Verfilmung mit Robert Stadlober in der Hauptrolle, auch so ein Jungspund, der nur so vorbeifliegt und der nicht abstürzen, der nicht verglühen will. So wird "Crazy" ein Klassiker der Jugendliteratur, wie heute "Tschick" von Wolfgang Herrndorf - aber dass einer so jung ist und dennoch so prägnant über das schrecklich-schöne Jungsein schreiben kann, was ja eigentlich nicht unlogisch ist, das hat ihm das Feuilleton trotz bisher vier folgender Romane bis heute nicht recht verziehen. Grundsätzlich wird er mit eher spitzen Fingern angefasst.
Und in der Tat ist er kein galant medial-kompatibler Profi, der passgenaue Auskünfte abspult oder ruppig steile Thesen anbietet. Er spricht leise, er spricht sanft; schweigt auch manchmal ausdrückliche 40 Sekunden lang (und 40 Sekunden Schweigen können tatsächlich sehr lang sein), findet zurück zu seinen manchmal kryptischen Antworten. Schaut auch nicht nebenher auf sein Smartphone, sondern dreht mit einer geradezu altmodischen und daher beeindruckenden Ernsthaftigkeit die Fragen, die man ihm stellt, um zu erkunden, was ihn in die Sphäre des Mysteryromans gelockt hat, um in elegisch-grundsätzliche Statements: "Ich glaube, dass so etwas wie Heimat nur vorübergehend geben kann; Heimat ist immer eine süße Illusion." Und: "Jegliche Zuflucht ist nur eine Vorstellung." Und: "Nach einem mit Licht ausgeleuchteten Raum, in dem man für eine kurze Zeit sicher ist, danach sehne ich mich und danach sehnen sich die Menschen, die ich in meiner Umgebung habe, aber diese Sicherheit ist nur von kurzer Dauer." Das alles sind typische Benjamin-Lebert-Sätze. Und eine grundsolide Melancholie umschwebt ihn, mehr als nur ein Hauch von zweifelnder Verlorenheit umgibt ihn - junger Mann, was nun?
Aber es geht zugleich sehr konkret zu, da entdeckt Lebert vor ein paar Jahren beim Spazierengehen auf der Insel Sylt den 1854 angelegten und 1907 geschlossenen "Friedhof der Heimatlosen", wo man die im Watt oder am Sandstrand angeschwemmten Toten beerdigte, deren Identitäten sich nicht klären ließen und der nun Dreh- und Angelpunkt seines neuen Romans wurde: "Ich habe mir Gedanken gemacht, ob es, was die Empfindung betrifft, einen Unterschied macht, wenn wir vor einem Grab stehen, auf dem ein Name zu lesen ist und der schmale Strich zwischen Geburt und Sterbedatum, der ein ganzes Leben bedeutet - oder nicht. Und ich glaube, unser Gefühl ist gar nicht so unterschiedlich. So kann man sich fragen, wie wichtig der Name eigentlich ist."
Immer wieder ist er so gestimmt nach Sylt gefahren, hat entsprechend das leichtlebige Partysylt links liegen gelassen und sich stattdessen mit der Geschichte der Insel befasst: "Ich habe mich mehrmals in dem hinreißenden Sylter Archiv aufgehalten, bei einer ungemein lieben Frau, die so angetan ist von Besuchern, die sich für die Geschichte der Insel interessieren." Und so ist "Mitternachtsweg" ebenso angereichert mit historischen Fakten aus der Zeit, als Sylt zur Marinefestung ausgebaut werden sollte, wie auch geerdet durch den Fundus an Mythen, Sagen und Abergläubischem, über den eine vom Meer bedrohte Insel nun mal verfügt.
Zugleich kann sich "Mitternachtsweg" auf ein zweites Fundament verlassen, auf eine Art germanistische Fantasieleistung sozusagen: "Es gibt ein berühmtes Geschehen, von dem die Literaturwissenschaft berichtet, da sitzen in der Villa Diodati am Genfer See fünf Schriftsteller zusammen, unter ihnen Lord Byron und Mary Shelley. Sie erzählen sich vorm Kamin Schauergeschichten, dann ziehen sie sich für die Nacht zum Schreiben zurück, lesen sich anderntags vor - und Shelley hat damals ihren 'Frankenstein' begonnen", erzählt der Autor. Und er selbst? "Ich habe im Laufe meines Lebens immer wieder vor mich hingeträumt und mir die Frage gestellt: 'Was hätte ich wohl für einen Roman in so einer Nacht begonnen?'' Nun - die Antwort ist klar!" Und er lacht und er nimmt einen Schluck zu trinken, er setzt sich wieder zurecht und er sagt: "Ich bin mir meiner Fähigkeiten und besonders meiner Nichtfähigkeiten natürlich bewusst." Und genau deswegen hat er es gewagt, mit dem Genre der romantischen Schauergeschichte zu spielen; weil er sich hier auskennt, weil er es so mag; und weil er auch die feine Balance zwischen Grusel und Komik austarieren kann.
Und wenn einem beim Lesen eine leichte Unruhe überfällt, wenn es die Spannung macht, dass man mit dem Lesen einfach nicht aufhören will, wenn Seenebel sich erhebt und wenn man als Lesender ernsthaft meint, das Rauschen der Wellen und das hintergründige Kreischen von Möwen tatsächlich zu hören - dann ist das genau so gedacht.
Benjamin Lebert: Mitternachtsweg, Hoffmann und Campe, Hamburg; 238 Seiten, 18 Euro
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