Herzlich willkommen!
Eine afghanische Flüchtlingsfamilie findet Halt im Landkreis Ratzeburg
Gleich am ersten Tag, als die Familie ihre nun eigene Wohnung bezieht, macht sich Ramez auf den Weg, um zu erkunden, in welchem Ort sie heimisch werden sollen. Er geht die Dorfstraße entlang, die zu Recht Hauptstraße heißt und an der sich liebevoll restaurierte Bauernhäuser und schmucklose Backsteinbauten aneinanderreihen. Wir sind in Schleswig-Holstein, im Südosten, irgendwo im Kreis Herzogtum Lauenburg, es ist eine schöne Gegend, grün, leicht gewellt, mit vielen Seen. Im Norden, noch einige Kilometer weiter, gibt es auch eine richtige Stadt: Lübeck.
Ramez geht am „Dorfkrug" vorbei, am Hof, wo man Kartoffeln direkt vom Bauern kaufen kann, und erreicht schließlich den Sportplatz: Ein 1-a-Fußballplatz streckt sich entlang der Straße, grasgrüner Kunstrasen, eine Flutlichtanlage. „Ich habe mich dort im Verein vorgestellt, habe gefragt, ob ich mitmachen kann, aber ich konnte noch nicht so gut deutsch sprechen", erzählt er. „Sie haben gesagt: Nee, wir haben gerade genügend Spieler, leider. Da war ich sehr traurig." Aber er lässt nicht locker: „Ich habe als Nächstes gefragt, ob ich nicht mal ein Probetraining mitmachen kann." Das wollten sie ihm nicht abschlagen, und ein paar Tage später sitzen die beiden Fußballtrainer bei Ramez' Eltern auf dem großen, tiefen Sofa vor Tee und Süßigkeiten und beratschlagen, wie man es hinbekommt, dass Ramez, der neunzehnjährige Flüchtling aus Afghanistan, der Asylbewerber, der frisch Zugezogene, aber vor allem der junge, sportliche Mann, im Verein Mitglied werden kann. Seitdem spielt Ramez bei den ersten Herren. Zwei Jahre ist das jetzt her.
Es gibt also immer eine kleine Hürde, über die man hinübermuss, aber die man schafft? „Ja", sagt Ramez und lacht verlegen: „Man muss wollen, man muss aber auch Hilfe haben, und nach der muss man fragen." Muss schauen, wie Türen, die eben noch fest verschlossen schienen, einen Spalt zu öffnen sind - damit man später elegant wie selbstverständlich hindurchgehen kann. Dass Ramez das kann, dass er weiß, dass im Konfliktfall nicht laute Anklagen, nicht Vorwürfe, sondern erklärende Gespräche helfen, dass man auch mal ein bisschen tricky sein muss, verdankt er neben dem Rückhalt in seiner Familie der Arbeit des Projekts „Herzlich willkommen im Kreis Herzogtum Lauenburg - Ankommen in Gudow".
Wer Hilfe braucht, muss danach fragen könnenDahinter steckt die Diakonie des Herzogtums Lauenburg. Immer wenn in Ramez' Familie, bei seinen Geschwistern, bei seinen Eltern das Wort „Diakonie" fällt, ist es, als ginge die Sonne auf. Wirklich. „Wenn wir einen Brief nicht verstehen, nicht wissen, wie füllt man das Formular aus, überhaupt, wenn es Probleme gibt, dann fragen wir bei der Diakonie nach", sagt Ramez' Schwester Parisa, 20. Ihr hat die Diakonie geholfen, einen Platz am Studienkolleg zu bekommen, hat ihr die nötigen Sprachkurse vermittelt, heute studiert sie in Hamburg Bauingenieurwesen.
Im Sommer 2010 hat die sechsköpfige Familie ihre Heimatstadt Herat im Westen Afghanistans verlassen und ist in Hamburg angekommen. „Wir haben uns bei der Polizei gemeldet, haben uns vorgestellt, und man hat uns weiter nach Neumünster geschickt", sagt Parisa. „Wir wussten nicht, wie das Asylverfahren in Deutschland ist, alles war fremd, die Kultur, das Essen, natürlich die Sprache, wir waren noch nie in Europa gewesen. Wir dachten, vielleicht bekommen wir in Hamburg eine kleine Wohnung mit zwei, drei Zimmern." Stattdessen müssen sie sich in Schleswig-Holsteins zentraler Aufnahmestelle für Flüchtlinge zu sechst einen Raum teilen, um 21 Uhr muss man auf dem Gelände sein, morgens wird wieder aufgeschlossen. Im Zimmer kochen dürfen sie nicht, es gibt auch keine Gemeinschaftsküche, es gibt eine Essensausgabe, und es muss gegessen werden, was auf den Tisch kommt. „Neumünster war schlimm, na ja, ein bisschen schlimm, Gudow war besser", sagt Parisa. Dorthin wurden sie nach zwei Monaten weiterverteilt.
Gudow? Ein Ort, den man auf der Landkarte lange suchen muss; man findet ihn neben der Autobahn nach Berlin, ein ehemaliger Grenzübergang. „Als wir in Neumünster erfuhren, dass wir nach Gudow kommen, haben alle gesagt: Oh, Schreck! Da ist das Ende der Welt, da ist nur Wald, da ist das Leben schwer", sagt Parisa. Aber so schlimm ist es dann nicht: Es gibt weitere afghanische Familien; die Familie hat jetzt zwei Zimmer, aber vor allem gehen die Kinder ab dem zweiten Tag zur Schule, und damit das klappt, bekommen sie Deutschkurse. „In Gudow hatten wir auch viel Zeit, wir haben uns zusammen mit den anderen afghanischen Jugendlichen selbst Deutsch beigebracht, beim Spaziergang durch den Wald", erzählt die junge Frau. „Zum Beispiel alle Zahlen zwischen eins und hundert, auf Deutsch natürlich", ergänzt Ramez. Ist das nicht ein schönes Bild? Afghanische Jugendliche gehen durch einen deutschen Laubwald und lernen Worte wie „siebenundzwanzig" oder „dreiundachtzig".