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Reportage

"Meine Wut ist größer als meine Angst"

Die Tochter sitzt am Küchentisch. Sie greift zum Handy, dabei nippt sie nervös an ihrem Kaffee. News trifft die junge Frau zu Hause, ein Gespräch im öffentlichen Raum wäre ein Risiko. Auch im Ausland befürchten Iranerinnen und Iraner, bespitzelt zu werden. "Iran ist ein Land ohne Rechte", sagt die Tochter. Kritik am Regime wird mit Haft, Folter und Tod bestraft. Deshalb muss die Familie anonym bleiben. Das Display des Handys leuchtet auf, eine lange Sprachnachricht erscheint. "Ich habe Angst", sagt die Stimme der Mutter auf Persisch. Während sie diese Sprachnachricht aufnimmt, steht sie am Fenster ihrer Wohnung. Sie lebt in einer Stadt im Iran. Jeden Tag beobachtet sie, wie Schülerinnen die Parole "Frau, Leben, Freiheit" an Hauswände malen. Immer wieder reißen sich junge Frauen den Hijab vom Kopf und werden von Ordnungshütern attackiert. "Aber meine Wut ist größer als meine Angst", sagt die Mutter. "Ich bin wütend auf dieses Regime, das Kinder tötet."

Seit dem 16. September ist im Iran nichts mehr, wie es war. Ein Protest für Frauenrechte ist zur Revolution angeschwollen, die den Sturz des repressiven Regimes fordert. Zündfunke war der Tod einer jungen Frau, der 22-jährigen Mahsa Jina Amini. Die Sittenpolizei nahm Amini am 16. September wegen eines zu locker sitzenden Kopftuchs fest. Augenzeugen berichten, dass die junge Frau von Religionspolizisten in einen Van gedrängt und verprügelt wurde. Bei ihrer Einlieferung zwei Stunden später war Amini laut den Ärzten bereits hirntot, berichten Oppositionsmedien. Sie habe schwere Kopfverletzungen durch Schläge erlitten. Die Behörden dementieren jede Anschuldigung. Die offizielle Todesursache: Herzversagen.

Widerstand der Frauen
Schon am Tag nach dem Tod Aminis formierten sich erste Aufstände. Studenten, allen voran junge Frauen, führten die Proteste an. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich Videoclips auf sozialen Medien: Schülerinnen, die "Tod dem Diktator" auf die Tafel schreiben. Frauen, die tanzend ihre Hijabs verbrennen und öffentlich ihre Haare abschneiden. Seither haben die Proteste das ganze Land erfasst, sich auf alle Gesellschaftsschichten ausgeweitet. "Frau, Leben, Freiheit", skandieren Demonstrierende. In Städten und Provinzen fordern die Massen das Ende des theokratischen Regimes. Polizei und Militär schlagen die Aufstände brutal nieder. In über sieben Wochen wurden laut Menschrenrechtsaktivisten mehr als 14.000 Menschen festgenommen. Mindestens 314 Personen seien getötet worden, unter ihnen 47 Minderjährige.

Am Anfang galten die Hochschulen als Epizentren der Unruhen. Zu Semsterbeginn eskalierte ein Aufstand an der Technischen Hochschule Scharif in Teheran, als die Sicherheitskräfte 200 protestierende Studenten einkesselten und angriffen. Es fielen Schüsse. Laut iranischen Menschenrechtsaktivisten sollen mindestens 17 Jugendliche getötet worden sein. Die Mutter stockt immer wieder, als sie von den Protesten an der Universität erzählt. "Zum Glück ist unsere Familie ins Ausland gegangen", sagt sie. "Wenn meine Kinder im Iran groß geworden wären, wären sie jetzt vielleicht tot."

Aufbruch nach Europa
Die Kinder waren noch klein, als die Familie nach Europa gezogen ist. "Ich wollte meinen Kindern ein freieres, selbstbestimmteres Leben ermöglichen", sagt die alleinerziehende Mutter. Ab dem achten Lebensjahr herrscht im Iran Hijab-Pflicht. Schon als kleines Mädchen musste die Tochter ein Kopftuch tragen. "Unter dem Hijab war es einfach nur heiß", erinnert sie sich heute. Beim Spielen sei er ständig im Weg gewesen. Wozu sie das Kopftuch tragen soll, hat die Tochter als Kind nicht wirklich verstanden. "Wir sind zwar Muslime - aber nur auf dem Papier", sagt sie. Wer die Konfession wechselt, kann in der islamischen Republik mit lebenslanger Haft oder sogar dem Tod bestraft werden. Freiwillig hat die Tochter als Kind trotzdem kaum eine Moschee von innen gesehen. In Europa angekommen, legte auch die Mutter ihren Hijab ab.

Die Kinder fanden schnell Anschluss. Als sie aus dem Haus waren, bekam die Mutter Heimweh. Das neue Land war zu fremd, die Sprachbarriere zu groß. "Das Regime habe ich auch damals gehasst", sagt sie. "Aber der Iran ist trotzdem mein Zuhause." Sie kehrte in ihre Heimat zurück.

In ständiger Sorge
"Ich weine jeden Tag", sagt die Tochter. "Aber es hilft nichts. Ich kann mich nur ablenken und hoffen, dass meiner Mutter nichts passiert." Mit dem Handy in der Hand sitzt sie auf einem Sessel in ihrer Küche. Dass in ihrem Geburtsland derzeit jeden Tag Menschen auf offener Straße getötet werden, kann sie kaum glauben. Sie sitzt, und sie wartet. Auf die nächste Nachricht ihrer Mutter.

Den Kontakt halten ist nicht immer einfach. Das Regime beschränkt im Iran den Zugang zum Internet, es kommt immer wieder zu Blackouts. Nach Beginn der Proteste hat die Tochter zwei Wochen lang nichts von ihrer Mutter gehört. Die Ungewissheit war schwer. Das ist sie jetzt noch, wenn Nachrichten nicht ankommen. "Aber ich bin schon abgehärtet", fügt die Tochter hinzu. Fast beiläufig erzählt sie von Gasbombenexplosionen und gewalttätigen Verhaftungen, die sie als Kind miterlebt hat. "Wer aus einem Land wie dem Iran kommt, ist ständig mit Gewalt und Angst konfrontiert."

"Tod dem Diktator"
Im Iran ist es kurz vor neun Uhr abends. Die Mutter macht das Fenster auf, geht aber außer Sichtweite. Sobald es Punkt schlägt, schreien alle Leute gleichzeitig eine Protestparole aus ihren Wohnungen, erzählt sie. "Tod dem Diktator!", ruft auch die Mutter, als der Satz in der ganzen Straße widerhallt. Diese Worte sind gefährlich. Die Mutter achtet darauf, von der Straße aus nicht sichbar zu sein. Denn es komme auch vor, dass die Polizei direkt in Wohnhäuser schießt, sagt sie. Oder auch, dass sie direkt im Schlafzimmer verhaftet werden.

"Bekannte haben mir erzählt, dass vor einigen Tagen ihre Nachbarn abgeführt wurden", sagt die Mutter. Ihre Freunde hätten beobachtet, dass ein benachbartes Ehepaar ein Fenster geöffnet hat, während vor dem Haus eine Demonstration vorbeizog. "Angeblich haben Sie den Kopf hinausgestreckt und ,Tod dem Diktator' gerufen", sagt die Mutter. Das schien jemand gesehen zu haben. Am nächsten Abend soll die Polizei die Türen jener Nachbarn durchgetreten und das Ehepaar verhaftet haben. "Niemand weiß, was mit ihnen passiert ist."

"Die Menschen riskieren es einfach"
In den 44 Jahren seines Bestehens hat das islamische Regime Aufstände immer mit Gewalt niedergeschlagen. 2009 brach nach dem umstrittenen Wahlsieg des Präsidentschaftskandidaten Ahmadinejad die "grüne Bewegung" los. Damals stammten die Demonstranten aus der Mittelschicht. Das Ende der Mullah-Herrschaft wurde erstmals in den Protesten von 2017 und 2019 gefordert. Anlass waren soziale und ökonomische Missstände wie die steigenden Benzinpreise. Dafür ging die Unterschicht auf die Straße. "Zu dieser Zeit hat die Regierung 1.500 Menschen getötet", erinnert sich die Mutter an 2019. Bis jetzt habe es funktioniert, die Leute durch brachiale Gewalt zum Schweigen zu bringen. Aber dieser Kampf betreffe alle Gesellschaftsschichten. "Die Menschen riskieren es einfach. Sie haben die Armut, die Unterdrückung satt. Sie machen weiter, egal was passiert."

Die Mutter stockt, als hätte sie zu viel gesagt. Obwohl Tausende Kilometer zwischen ihr und News liegen, bekommt sie kurz Angst. Sie zögert einen Moment, dann spricht sie mit kräftiger Stimme weiter. "Wenn du mich fragst: Das Ablaufdatum der islamischen Republik ist gekommen.", sagt sie. "Sogar Menschen, die vor 44 Jahren die Mullahs in unser Land gebracht haben, stehen jetzt auf unserer Seite. Es ist Zeit."

Für die Freiheit in den Tod
Mahsa Amini ist nicht die Einzige, die von der iranischen Moralpolizei getötet wurde. Ihre Geschichte reihe sich in eine lange Liste vertuschter Morde ein, sagt die Tochter. "Das ist auch Nika Shakrami passiert. Sie war erst 16." Die Tochter öffnet auf ihrem Handy ein Video. Die Aufnahme ist echt, sie wurde von CNN verfiziert. Ein Mädchen steht auf der Straße, über ihrem Kopf schwingt sie ein brennendes Kopftuch. Es ist das letzte Video, auf dem Shahkrami lebendig zu sehen ist. "Noch am selben Tag ist sie verschwunden", sagt die Tochter. Ihre Leiche wurde eine Woche später im Hof eines Hauses gefunden. Laut iranischen Behörden soll Nika Shahkrami gesprungen sein. "Sie sagen, es war Selbstmord", erzählt die Tochter überspitzt. "Wenn ich im Iran wäre, wäre ich sicher auch auf der Straße. Das könnte ich sein."

Die Sterbebilder
Im Iran gibt es einen Brauch. Wenn jemand stirbt, stellt man ein Bild der verstorbenen Person ins Fenster. Auf dem Porträt stehen Name, Alter und Todesursache. "Einige Tage nach Beginn der Proteste war ich auf der Straße", erzählt die Mutter. "Ich habe ein Sterbebild entdeckt. Es war der Sohn einer Nachbarin. Er war erst 19 Jahre alt. Ein anderer Nachbar hat seine Tochter verloren, die erst 20 war." Sie muss kurz schlucken. Dann spricht sie weiter. "Beide sind zu Demonstrationen gegangen. Sie haben für ihre Freiheit gekämpft und sind nie wieder nach Hause gekommen."

Offiziell haben beide Jugendlichen dieselbe Todesursache. Auf den Sterbebildern steht "Autounfall"."Das ist falsch", sagt die Mutter. "Nachdem sie verschwunden sind, haben ihre Familien einen Anruf von den Behörden bekommen. Sie wurden gezwungen zu lügen. Wenn Eltern die Leichname ihrer getöteten Kinder selbst begraben wollen, müssen sie eine falsche Todesursache angeben."

Die Sterbebilder junger Menschen werden jeden Tag mehr, sagt die Mutter. Sie alle sollen an "Selbstmord","Autounfall" oder "Herzinfarkt" gestorben sein. In ihrem Zimmer kann sie deutlich die Protestschreie hören. "Wann wirst du Selbstmord begehen?", rufen Protestierende, wenn ein Demonstrant festgenommen wird. "Sie schreien laut den Namen, wenn jemand abgeführt wird", erzählt die Mutter. "Damit niemand vergisst, dass dieser Mensch nicht freiwillig sein Leben gibt."

Angst vor der Sittenpolizei
Die Tochter kann verstehen, dass die jungen Menschen Irans nicht aufgeben. "Du kannst als Frau nicht allein auf die Straße. Du kannst dich nicht scheiden lassen, selbst wenn dein Mann dich misshandelt. Dein Leben gehört dort nicht dir", sagt sie.

Schon als kleines Mädchen hat sie beobachtet, wie Frauen von der Sittenpolizei verhaftet werden. "Die Aufseherinnen nennen sich "Begleiterinnen zum rechten Weg", erzählt sie. Die Sittenpolizei bestehe im Normalfall aus Frauen. Fremde Männer dürfen Frauen nicht anfassen. "Sie tragen lange, schwarze Schleier. Es ist absolut willkürlich, wen sie aufhalten -meistens sind es hübsche, junge Frauen. Sie kommen auf dich zu, packen dich, stellen dich zur Rede. Du kannst versuchen, sie vor Ort zu bestechen. Wenn das nicht funktioniert, nehmen sie dich in einem Van mit. Sie sammeln die Frauen von der Straße ein, als ob sie Hunde wären."

Ein Leben ohne Jugend
Die Mutter war fast noch ein Kind, als die islamische Revolution vor 44 Jahren das Land erschütterte. "Das Regime hat mir meine Jugend genommen", sagt sie heute. Gegen die eigenen Überzeugungen wurde die Mutter zum Beten, zum Tragen des Hijab, zur Enthaltsamkeit gezwungen. Ihr gesamtes Leben wurde von den Mullahs diktiert. "Die neue Generation will die Unterdrückung nicht einfach hinnehmen, wie wir es getan haben", sagt die Mutter. "Unsere Kinder wollen nicht für dieses erzwungene Paradies leben."

Die Metapher vom "erzwungenen Paradies" stammt aus der Ballade "Baraye" von Shervin Hajipour. Der Song wurde in kürzester Zeit zur inoffi ziellen Protesthymne. Den Text hat Hajipour aus Tweets über die Proteste und Sehnsüchte von Iranern und Iranerinnen zusammengestellt. "Baraye", der Titel des Songs, bedeutet übersetzt "für" oder "wegen". Wenige Tage nach der Veröffentlichung wurde der 25-jährige Hajipour festgenommen. Gegen eine Kaution kam er frei und distanzierte sich auf dem sozialen Netzwerk Instagram von seinem Protestlied.

Die Tochter schüttelt den Kopf. "Auf Twitter heißt es: Man sollte dem Lied die Zeile "für erzwungene Instagramstories" hinzufügen", sagt sie. Im Hintergrund lässt sie das Lied laufen. "Für das Tanzen auf der Straße", singt Hajipour auf Persisch durch die Küche. "Für die Angst, sich zu küssen. Für das Mädchen, das sich wünscht, ein Junge zu sein." Die Tochter summt leise mit. "Baraye Azadi -Für die Freiheit."

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