Kinder mit Beeinträchtigung dürfen in Österreich nur zehn Jahre in die Schule gehen. Für ein elftes oder zwölftes Schuljahr müssen ihre Eltern Anträge bei der Bildungsdirektion stellen, aber die werden häufig abgelehnt. Ein Wiener Schüler will sich das nicht gefallen lassen und kämpft um sein Recht auf Bildung
Ein Foto liegt auf dem Esstisch im 23. Wiener Gemeindebezirk. Darauf zu sehen: Ein kleiner Junge mit einem großen Lächeln. Seine Arme umschlingen die Schultüte, die mit Dinos bedruckt ist. Das Kind freut sich auf seinen ersten Schultag. Der Bub auf dem Foto heißt Julian Mühlbacher. Mittlerweile ist er 15 Jahre alt und hat die vierte Klasse einer Mittelschule absolviert. Julian darf nur noch ein Jahr in die Schule gehen. Was danach sein wird, weiß er nicht.
An diesem Nachmittag im Juli sitzt er zwischen seinen Eltern am Esstisch und lauscht dem Gespräch. Hin und wieder antwortet er selbst auf eine Frage. Er spielt gerne Fußball, lernt Klavier und zockt Nintendo. Er träumt davon, einmal Fußballexperte im Fernsehen zu werden. Julian trägt ein schwarzes T-Shirt und eine Brille. Dahinter liegen seine mandelförmigen Augen. Julian hat das Down-Syndrom. Er hat ein Chromosom mehr. So heißen die Bestandteile im Zellkern, die Erbinformationen speichern. Bei Menschen mit Down-Syndrom ist das Chromosom 21 nicht zweimal, sondern dreimal vorhanden. Deshalb wird das Down-Syndrom auch Trisomie 21 genannt. Das dritte Chromosom 21 verursacht eine Entwicklungsverzögerung. Julian kann zum Beispiel nicht so viele Informationen gleichzeitig verarbeiten. Er lernt etwas langsamer. „Julian hat den Körper eines Teenagers und die kognitive Entwicklung eines Elfjährigen", sagt seine Mutter Claudia Mühlbacher. Sie schiebt eine Einkaufsliste über den Tisch, die ihr Sohn selbst geschrieben hat. Darauf steht: „Hünner Fleisch, Schlagobas, Zwibel, Babrica".
Mutter und Vater Mühlbacher wünschen sich, dass ihr Sohn mehr Zeit in der Schule bekommt, um den Stoff in seinem Tempo zu lernen. Diese Zeit wird ihm wohl nicht genehmigt. „Niemand würde auf die Idee kommen, einen Elfjährigen aus dem Bildungssystem zu werfen, aber genau das passiert bald mit Julian", sagt der Vater, Bernd Mühlbacher. Deshalb haben sie einen Antrag bei der Bildungsdirektion Wien gestellt. Die Antwort steht noch aus. Aber die Familie geht davon aus, dass der Antrag auf eine längere Schulbildung für Julian abgelehnt wird. In dem Fall wollen sie eine Verfassungsklage einreichen, um das Gesetz aufzuheben. „Irgendwann muss jemand den Rechtsweg beschreiten, sonst wird sich nie etwas ändern", sagt Bernd Mühlbacher. Er arbeitet in der IT-Branche, seine Frau Claudia ist Juristin. Sie sagt: „Für die Politik ist das Thema nicht interessant, weil wir keine repräsentative Bevölkerungsgruppe sind, aber unsere Geschichte ist kein Einzelfall."
Die Familie hat sich einen prominenten Rechtsanwalt genommen. Wolfram Proksch vertrat den Datenschützer Maximilian Schrems gegen Facebook, er verzögerte den Bau der dritten Piste am Flughafen Wien und erkämpfte vor dem Verfassungsgerichtshof für Betroffene zuletzt das Recht auf Sterbehilfe. Den Fall von Julian Mühlbacher hat er übernommen, weil der Jurist darin eine Verletzung der Grund- und Menschenrechte sieht. „Betroffene Kinder sind aus unserer Sicht in ihrem Recht auf Bildung und in ihrem Recht auf Nichtdiskriminierung gravierend verletzt", sagt Wolfram Proksch. Der Rechtsanwalt vertritt nicht nur die Eltern von Julian in dieser Sache, sondern vier weitere Familien.
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