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So sichern Sie Ihr Recht auf zweite Arzt-Meinung

Roland Tenbrock braucht bei seiner Arbeit vor allem eins: Einfühlungsvermögen. "Für eine Oma mit kaputter Hüfte, die nur zweimal am Tag mit ihrem Hund die 'Kö' lang spazieren möchte", so der Orthopäde aus Düsseldorf, "ist eine Physiotherapie wahrscheinlich geeigneter als eine riskante Operation." Das sieht sicher nicht jeder Arzt so, was die Zahl der chirurgischen Eingriffe nahelegt.

Zwischen 2007 und 2012 ist in Deutschland die Zahl der stationären Behandlungen von Wirbelsäulenproblemen um 26 Prozent gestiegen. Auch die Zahl der Herzkatheter hat deutlich zugenommen, und die der künstlichen Hüft- und Kniegelenke befindet sich seit Jahren auf hohem Niveau. Beim Griff zum Skalpell ist Deutschland damit im Vergleich zu den anderen OECD-Staaten Weltspitze.

Bevor sie sich unters Messer begeben, versuchen viele Patienten, auf eigene Faust herauszukriegen, ob eine von ihrem Arzt empfohlene OP alternativlos ist. Zwei Drittel der Deutschen haben sich schon einmal über andere Behandlungsmöglichkeiten informiert.

Recht auf unabhängige ärztliche Zweitmeinung

Nun hat der Bundestag das Recht auf Einholung einer ärztliche Zweitmeinung in Gesetzesform gegossen. Im Versorgungsstärkungsgesetz wird das Recht der Versicherten auf eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung gestärkt.

Die größte Neuerung: Ärzte sollen demnächst auf diese Möglichkeit ausdrücklich hinweisen, und der Zweitgutachter erhält dafür von der Krankenkasse ein Honorar. Eine Liste mit geeigneten Adressen und eine maximal vierwöchige Wartezeit auf einen Termin sollen das Ganze praktikabel machen. In Kraft treten werden die Regelungen im nächsten Jahr.

Bislang ist Quelle Nummer eins für alternative Behandlungsmöglichkeiten nicht ein Arzt, sondern vielmehr das Internet. Natürlich: Zu jeder Krankheit, jedem Symptom finden Patienten hier etwas Passendes.

Nicht immer erste Wahl, warnt Professor Volkmar Jansson, Direktor der Orthopädischen Klinik am Uni-Klinikum München, mit Blick auf seinen Krankenhausalltag: "Die Patienten bekommen aus dem Internet sehr viele Informationen, können damit aber wenig anfangen, weil sie nicht für sie aufbereitet wurden." Auch Freunde und Verwandte seien in der Regel überfordert.

Mehr als die Hälfte weniger orthopädische OPs

Dabei könnten sich die Kranken die Recherche in Internet und Bekanntenkreis sparen, denn: Auch schon vor dem Versorgungsstärkungsgesetz hatten Patienten das Recht auf die kostenlose Beratung durch einen zweiten Arzt. Leider weiß ein Viertel der Bundesbürger davon nichts, so der Befund einer Studie des Krankenhausbetreibers Asklepios und des Hamburger Instituts für Management- und Wirtschaftsforschung.

Das vom Bundestag verabschiedete Gesetz soll das ändern. Schließlich muss der Arzt den Anspruch jetzt zumindest erwähnen. Wie sinnvoll unabhängige Gutachten sein können, zeigt eine aktuelle Untersuchung der Deutschen BKK: Mehr als 60 Prozent aller geplanten orthopädischen Operationen wurden bei ihren Versicherten durch eine zweite ärztliche Meinung abgewendet.

Patienten, die sich gegen die Operation entschieden haben, wiesen durchschnittlich in kürzerer Zeit eine gleiche oder bessere Lebensqualität auf als Operierte. Patienten, deren eingeholte Zweitmeinung die Notwendigkeit einer Operation bestätigte, zeigten sich hingegen bei der weiteren Behandlung vergleichsweise sehr kooperativ.

In diesen Fällen immer eine zweite Meinung einholen

Bisher ist das Einholen von Zweitmeinungen vor allem bei schweren Erkrankungen wie Krebs oder vor großen Operationen üblich. Dabei mache sie in viel mehr Fällen Sinn, wie Judith Storf, langjährige Beraterin bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) in Bielefeld, aufzählt: "Sobald man Zweifel an der Diagnose hat oder sich zwischen mehreren alternativen Behandlungen entscheiden muss oder die Aufklärung durch den Arzt mangelhaft war."

Bei der Suche nach geeigneten Experten für eine zweite Meinung haben die Patienten die freie Wahl. In der Regel sei der behandelnde Arzt ein guter Vermittler, sagt Jörg Rüggeberg, Vizepräsident des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen. Unterstützung bekommen die Patienten aber auch von den Ärztekammern und Verbraucherschutzorganisationen. Mittlerweile haben sich auch einige Internet-Start-ups auf die Vermittlung von ärztlichen Gutachten spezialisiert.

Gerne beraten auch die Krankenkassen, denn ein Rückgang von Operationen liegt auch in ihrem Interesse. Schließlich kommen chirurgische Eingriffe sie in der Regel teurer zu stehen als alternative Behandlungsmethoden. Eine Hüft-OP koste beispielsweise rund 8000 Euro, erklärt Orthopäde Tenbrock. Eine einjährige Physiotherapie mit ärztlicher Begleitung belaste die Krankenkasse lediglich mit 1200 Euro.

Zusammenhang zwischen OP-Zahlen und wirtschaftlichem Kalkül

Dass tatsächlich nicht immer nur medizinisch notwendige Entscheidungen getroffen werden, glaubt auch der AOK-Bundesverband. Er hält es nicht für einen Zufall, dass sich bestimmte Operationen in Gegenden häufen, die eine hohe Dichte an Spezialisten bestimmter Fachrichtungen und ein großes Angebot an Krankenhausbetten haben.

So liefen im Kreis Paderborn in Nordrhein-Westfalen nur knapp halb so viele Menschen mit künstlichen Kniegelenken herum wie im nahe gelegenen hessischen Landkreis Waldeck-Frankenberg. Dafür trügen in Nordostbayern überdurchschnittlich mehr Menschen einen Herz-Defibrillator.

Und immerhin zwei von fünf befragten Chefärzten bestätigten im Rahmen einer Studie der Universität Duisburg-Essen, dass es in ihrem Fachgebiet wegen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen überhöhte Eingriffszahlen gebe. Zweifelsfrei bewiesen ist der Zusammenhang zwischen OP-Zahlen und wirtschaftlichem Kalkül allerdings nicht, so eine von Krankenkassen und Kliniken gemeinsam in Auftrag gegebene Studie.

Ein wichtiger Faktor bei der Zunahme bestimmter Erkrankungen ist auch die demografische Entwicklung: Die deutsche Bevölkerung wird immer älter.

Gesetz verunsichert, aber hilft nicht

Dass das neue Gesetz die Rahmenbedingungen nicht verändere, kritisiert Susanne Mauersberg vom Bundesverband der Verbraucherzentralen. Ihre Forderung: "Die ökonomischen Fehlanreize für die Kliniken müssen minimiert werden."

Außerdem könne das Gesetz eher zur Verunsicherung von Patienten beitragen als zu ihrer Aufklärung: Es beziehe sich nur auf einige wenige Therapien, während aber das bisherige Recht auf eine Zweitmeinung weiterhin bestehen bleibe. Das kenne keine Einschränkungen. Außerdem regelt das Gesetz nicht, wie viele Zweitmeinungen eigentlich erlaubt sind. "Man sollte es aber im eigenen Interesse nicht übertreiben", rät die Patientenberaterin Judith Storf. Sonst mache man sich nur verrückt.

Auch Tenbrock geht das Gesetz nicht weit genug: "Wenn man eine zweite Meinung anbietet", meint er, "muss es auch die Möglichkeit geben, eine alternative Behandlung zu vernünftigen Konditionen anzubieten." Das sei wegen der zu niedrig angelegten Fallpauschalen oftmals nicht möglich, sagt der Düsseldorfer Orthopäde.

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