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Auftragsboom in der Coronakrise: "Die Krise ist eine Chance für uns" - DER SPIEGEL - Job & Karriere

Betreiberinnen eines Online-Hofladens: "Die Krise ist eine Chance für uns" Juliane Willing, 31, hat zusammen mit Eva Neugebauer, 31, vor fünf Jahren den Online-Hofladen "Frischepost" gegründet und beliefert Kunden in Hamburg und demnächst auch im Rhein-Main-Gebiet mit Lebensmitteln aus landwirtschaftlichen Betrieben.

"Wir haben in den letzten vier Wochen 30 neue Packer und Fahrer eingestellt. Unsere Lieferanten kommen teilweise kaum hinterher, wir haben jetzt sechsmal so viele Bestellungen von Privatkunden wie noch vor einem Monat. Dabei sah es zunächst alles andere als gut für uns aus: Mitte März haben wir von einem auf den anderen Tag so gut wie alle Firmenkunden verloren - und damit 70 Prozent unseres Umsatzes.

Für Unternehmen bieten wir eine Art Kantinenservice an: Wir bestücken den Kühlschrank täglich mit Gerichten, Salaten, Snacks und Stullen. Und Kitas bestellen bei uns zum Beispiel frische Lebensmittel aus der Region. Mit den Ausgangsbeschränkungen sind die Bestellungen unserer Firmenkunden alle weggefallen, und wir mussten uns erst einmal sortieren und überlegen: Was machen wir jetzt?

"In der ersten Woche mussten alle aus dem Büro beim Packen und Ausliefern mithelfen."

Wir verstehen uns als ein Social Business und arbeiten mit mehr als 250 Produzenten aus dem Hamburger Umland zusammen, darunter sind viele Landwirte, aber auch kleine Manufakturen, die zum Beispiel Honig herstellen. Ohne Umwege vom Acker zum Verbraucher, das ist unser Motto. Meine Eltern haben selbst einen landwirtschaftlichen Betrieb, so kam auch die Idee zu unserer Firma, mit der wir vor fünf Jahren in Hamburg gestartet sind.

Weil Firmen meistens vormittags beliefert werden wollen und Privatkunden nachmittags, hatten wir von Anfang an beide im Blick, haben uns in den letzten zwei Jahren aber eher auf Firmen konzentriert. Mit der Coronakrise war nun klar: Wir müssen mehr Privatkunden gewinnen. Also haben wir uns entschlossen, unseren Kunden im Rahmen der 'Flatten-the-Curve'-Bewegung zehn Prozent Rabatt auf unsere Produkte anzubieten. Den Produzenten haben wir weiterhin den vollen Preis gezahlt, der Rabatt ging also von unserem Umsatz ab. Die Aktion hat sich für uns schon ausgezahlt: Es sind so viele Bestellungen eingegangen, dass in der ersten Woche alle aus dem Büro beim Packen und Ausliefern mithelfen mussten.

Die Bestellungen werden automatisiert über unsere Systeme an die Produzenten versendet. Sie liefern uns nur genau das, was unsere Kunden bestellt haben, wir haben also kein klassisches Lager und müssen auch nichts wegwerfen. Wer bei uns an einem Werktag bis 11 Uhr bestellt, wird am nächsten Tag beliefert. Das klappt auch trotz der hohen Nachfrage.

Vor allem Milch, Käse, Eier und frisches Gemüse sind derzeit beliebt, aber auch Bier, Wein, Nudeln, Mehl - all die Dinge, für die viele Menschen nun nicht mehr in den Supermarkt gehen wollen. Sogar nachhaltiges Toilettenpapier hatten wir bis vor wenigen Tagen im Angebot - das ist jetzt aber vorerst ausverkauft.

Auch wenn wir uns natürlich andere Umstände gewünscht hätten: Die Krise ist durchaus eine Chance für uns. Wir gehen davon aus, dass nun viele Endkunden ihren Konsum überdenken und sich auch langfristig für uns entscheiden."

Hersteller von Schutzwänden: "Wir sind jetzt sieben Tage die Woche erreichbar" Matthias Walda, 44, aus Börnsen stellt mit seiner Firma "Acryl Hamburg" Spuckschutzwände und Schutzmasken her.

"Ich hatte die Anträge für Kurzarbeit schon ausgedruckt. Wir sind ein kleines auf Kunststoff und Acrylglas spezialisiertes Unternehmen, wir stellen zum Beispiel Werbe- und Firmenschilder, Fenster für Boote, Möbel oder Hauben her. Uns sind viele Aufträge weggebrochen, vor allem von Messebauern, aber auch von Bootsbesitzern, die nicht mehr in die Jachthäfen kommen.

"Das Ding war ein richtiger Ladenhüter - und jetzt kommen wir mit den Bestellungen kaum hinterher."

Als ich dann abends bei der Gassirunde mit meinem Hund an der Apotheke in unserer Straße vorbeigelaufen bin, habe ich mich an eine Idee erinnert, die ich vor mehr als drei Jahren mal hatte: durchsichtige Schutzwände für Verkäufer. Damals war auch gerade Grippewelle, aber wir haben nur drei Stück verkauft, das Ding war ein richtiger Ladenhüter. Ich nahm die Schutzwände also wieder auf in unser Angebot: Und nun kommen wir mit den Bestellungen kaum noch hinterher!

Supermärkte, Apotheken, Bäcker, Tankstellen, aber auch viele Arztpraxen aus ganz Deutschland melden sich bei uns. Und statt Kurzarbeit machen wir jetzt Überstunden. Werktags sind wir jetzt immer bis 21 Uhr erreichbar, samstags und sonntags bis 18 Uhr. Seit ein paar Tagen produzieren wir auch Gesichtsmasken, da hat nun sogar schon die Hamburger Uniklinik welche bestellt. Dabei machen wir gar keine Werbung, irgendwie spricht sich das einfach rum.

Manche werfen uns jetzt vor, wir würden aus der Coronakrise Profit schlagen. Aber das stimmt nicht, wir versuchen die Preise so niedrig wie möglich zu halten. Die Spuckschutzwände kosten genau so viel, wie Acrylglaswände auch vor Corona gekostet haben: Kleinere gibt es ab 130 Euro. An einer Maske arbeiten wir rund 30 Minuten und verkaufen sie für 15 Euro, da bleibt kaum Gewinn. Viel günstiger bekommt man die auch aus China nicht.

Wie lange wir noch Material bekommen, ist unklar. Die Lieferzeiten betragen jetzt schon acht Wochen. Zum Glück habe ich, bevor alles losging, noch zehn Tonnen Acrylglas gekauft. Das ist mehr als dreimal so viel wie wir sonst im ganzen Jahr verbrauchen. Im Moment sind wir also noch ganz gut aufgestellt. Trotzdem hoffe ich, dass die Krise so schnell wie möglich vorbei ist und wir wieder in unseren alten Alltag finden.

Was mich motiviert, sind die vielen Dankesbriefe, die wir bekommen, oft von Leuten, die wir gar nicht kennen. Ich drucke alle aus und hänge sie in unser Büro. Eine Kassiererin hat uns zum Beispiel geschrieben, sie fühle sich jetzt mit der Spuckschutzwand viel sicherer. Und tatsächlich ist es ja auch gruselig, wenn man mal genau hinsieht, was abends an den Wänden für Spuren zu sehen sind."

Mathe-YouTuber: "Jetzt wollen alle wissen, wie das mit den Lernvideos funktioniert" Daniel Jung, 37, dreht seit 2011 Lernvideos mit dem Fokus, Mathematik verständlich zu machen. Er war damit einer der Ersten in Deutschland. Begonnen hat er mit seinen Videos auf YouTube, wo er aktuell mehr als 600.000 Abonnenten hat. Jung hat drei Firmen gegründet; sie alle widmen sich dem digitalen Lernen.

"Seit Jahren schauen immer mehr Menschen unsere Lernvideos. Die meisten Nutzer sind 16 Jahre und älter, unser Schwerpunkt sind also Lernende auf dem Weg zum Abitur oder im Studium. Von einfacher Addition bis zu Matrizen findet man bei uns alles erklärt. In letzter Zeit sind auch immer mehr Lehrer und Professoren dazugekommen, die ihren Unterricht digital ergänzen wollen. Durch die Schul- und Unischließungen haben wir so viel Publikum wie lange nicht. Normalerweise produziere ich meine kurzen Erklärvideos wöchentlich; jetzt mache ich für YouTube, TikTok und Instagram bis zu vier Videos täglich. Die Nachfrage ist einfach da. Denn gerade Mathe muss erklärt werden; und das geht im Video einfach wesentlich besser als in einer E-Mail oder auf einem Arbeitsblatt.

Die Zeit gerade macht umso deutlicher, dass wir die Digitalisierung von Lerninhalten in den vergangenen Jahren verschlafen haben. In Amerika sind Lernvideos schon seit 2007 ein fester Bestandteil. Ich fühle mich bestätigt darin, was hierzulande gerade beim digitalen Lernen passiert. Über Jahre hat mir mit meinen Lernvideos niemand zugehört. Das Thema, Wissen zu digitalisieren, lief völlig unter dem Radar. Jetzt fragen alle, wie es funktioniert. Gute Lernvideos sollten kurz, verständlich und prägnant sein; das gilt für alle Fächer. Ich brauche keine Effekte, um die Mitose in Bio oder die P-q-Formel in Mathe zu erklären.

Wir haben in Deutschland so viel Know-how und Exzellenz - lasst uns die Zeit gerade nutzen, um zu experimentieren. Mein Team wächst: Wir sind 15 Leute und arbeiten aus ganz Deutschland. Ich tue mein Bestes, um all das weiter voranzutreiben."

Eismann-Fahrer: "Ich habe die Zahl meiner Neukunden verzehnfacht"

Dennis Friederichs, 34, fährt seit 2008 für die Firma Eismann zwischen Dithmarschen und Sankt Peter Ording Tiefkühlkost aus. "Die Nachfrage gerade ist enorm. In normalen Zeiten beliefere ich täglich zwischen 60 und 70 Menschen mit Tiefkühlwaren. Allein in den letzten sechs Wochen sind 50 Kunden in meinem Auslieferungsgebiet dazugekommen. In einem normalen Monat sind es fünf. Wir sind Lebensmittelgrundversorger, gerade brummt unser Geschäft. Ich habe nicht nur die Anzahl meiner Neukunden verzehnfacht - die Leute kaufen auch mehr als zu normalen Zeiten. Gerade vor allem Eis, aber auch Hähnchenbrustfilet; Gemüse oder auch mal Schnitzel. In normalen Zeiten für etwa 40 Euro, gerade sind es 30 Prozent mehr. Ich arbeite als selbstständiger Verkaufsfahrer für Eismann, habe also meinen eigenen fahrenden Supermarkt. Da bin ich auf jeden Kunden angewiesen. Ich habe eine Frau und einen achtjährigen Sohn; darum bin ich glücklich, dass uns die Krise finanziell nicht so trifft.

"Ich bin glücklich, dass uns die Krise finanziell nicht so trifft."

Meine Tage während Corona sind lang. Alle zwei Tage belade ich morgens meinen Wagen. Manchmal geht es abends dann auch bis 21 Uhr. Beschweren würde ich mich aber nie. Ich liebe meinen Job, auch während Corona, wenn der Schnack kürzer ausfällt. Gerade läuft alles kontaktlos. Mein Verkaufsgespräch führe ich jetzt aus sicherem Abstand. Viele meiner Kunden kenne ich seit Jahren. Es ist ein bunter Mix aus Generationen. Mit einigen spiele ich im Verein Fußball, andere waren Gäste auf meiner Hochzeit.

Die Dankbarkeit, die meine Kollegen und ich gerade erfahren, ist enorm. Persönlich, in Briefen oder Kurznachrichten. Ich möchte meinen Kunden in guter Erinnerung bleiben - gerade in dieser schwierigen Zeit."

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