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Boom der Secondhandbranche: Wahre Schätze im Schrank - SPIEGEL ONLINE - Wirtschaft

In Ruben Deppes kleinem Laden in der Bielefelder Altstadt braucht es Zeit, um Schätze zu finden. Der 36-Jährige - auffälliger Bart, auffälliger DFB- Retro-Pulli - steht inmitten von knapp 40 vollgepackten Quadratmetern: ein Sammelsurium an alten Ledertaschen, Trainingsjacken, Pullis, Sweatern und Sneakern, die darauf warten, dass ihr zweiter Frühling beginnt.

Außer ein paar Kunden, die durch den Laden schlendern, und einem jungen Käufer, Anfang 20, der sich diebisch über ein Helene-Fischer-Tour-Shirt freut, das er für einen Kumpel erstanden hat, ist es für Deppe ein entspannter Tag. Sein Hauptgeschäft, sagt er, mache er ohnehin, wenn es wärmer wird und die Festivalsaison beginnt.

Das Öko-Image von einst ist massentauglich geworden

Das Sortiment seines Secondhandladens ist mit dem Kundenstamm gewachsen. Mehr als 1500 Teile sind es mittlerweile, schätzt Deppe. Den Großteil findet er auf regionalen Flohmärkten, doch er nimmt auch Ware in Kommission. "Den meisten Kunden ist durch Plattformen wie Ebay mehr als früher bewusst, was ihre Kleidung wert sein könnte", sagt Deppe. Auch deswegen habe er seine Preise in den vergangenen Jahren erhöht, durchschnittlich um mindestens 20 bis 30 Prozent, schätzt er.

In Metropolen wie Berlin oder Hamburg, wo häufig nach Gewicht abgerechnet wird, sind die Preise im gleichen Zeitraum teilweise um 50 Prozent oder mehr gestiegen. Da hat es der Secondhandliebhaber in der ostwestfälischen Provinz noch gut.

Als Deppe 2009 gemeinsam mit einem Geschäftspartner den Laden "Used" eröffnete, war Secondhand in Bielefeld eine Nische. Heute ist das selbst im etwas steifen Ostwestfalen nicht mehr so. Ein Geschäft für getragene Damenmode befindet sich um die Ecke, auch ein Oxfam-Shop ist fußläufig zu erreichen. Secondhandläden sind fester Bestandteil der Einkaufsstraßen geworden. Das muffige Öko-Image, das Secondhand lange umwehte, ist längst der Massentauglichkeit gewichen.

Seit Beginn des Jahrtausends ist der Umsatz des Einzelhandels mit Antiquitäten und gebrauchten Produkten um mehr als 2,5 Milliarden Euro gewachsen, wie Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen. Der größte Teil wird dabei in der Sparte "Einzelhandel mit sonstigen Gebrauchtwaren" erwirtschaftet, zu denen auch das Geschäft mit gebrauchter Kleidung zählt. Allein im Jahr 2016 wurden in diesem Bereich 617 Millionen Euro umgesetzt.

Treiber dieser Zahlen ist - wie bei so vielen Trends - eine junge, gut gebildete Käuferschicht. Sie trägt Secondhand heute nicht mehr nur um zu sparen, sondern vielmehr als modisches Statement: individuell, stilbewusst und - na klar - auch ein bisschen nachhaltig.

Fragt man nach Secondhandkäufern im Bekanntenkreis, erfährt man vor allem von Frauen, die am liebsten auf regionalen Flohmärkten oder im Internet kaufen, wo Anbieter wie Kleiderkreisel, Momox oder Zadaa auf den Markt strömen. Die finnischen Macher der Zadaa-App versprechen nicht weniger als "die Kleiderschränke dieser Welt" zu vernetzen.

Immer mehr Anziehsachen für immer weniger Geld

In deutschen Kleiderschränken hat sich mittlerweile so einiges angesammelt. Fünf neue Kleidungsstücke kaufen die Deutschen im Durchschnitt pro Monat, 60 im Jahr. Das hat eine Umfrage von Greenpeace im Jahr 2015 ergeben. Demnach werden von den 5,2 Milliarden Kleidungsstücken in deutschen Schränken gut zwei Milliarden nur "selten" oder " fast nie" getragen - das sind rund 40 Prozent.

Woanders in der westlichen Welt sieht es ähnlich aus. Schon 2013 kaufte zum Beispiel der durchschnittliche Amerikaner 64 neue Kleidungsstücke pro Jahr. Heute, sechs Jahre später, dürfte diese Zahl noch deutlich höher liegen. Kleidung ist zum Konsumgut geworden. Fast Fashion nennt die Branche das.

Der Name beschreibt nur allzu gut die Taktung der Modeindustrie, die keine Verschnaufpausen mehr kennt: Modezyklen werden kürzer, Kleidung wird immer schneller auf den Markt geworfen, zu Ramschpreisen. Gaben wir Anfang der Siebzigerjahre noch rund zehn Prozent unseres Gesamtbudgets für Kleidung und Schuhe aus, sind es heute kaum noch fünf Prozent. Billiganbieter wie Primark und H&M machen es möglich. Sie haben den Modemarkt verändert und den Preiskampf längst auf die Spitze getrieben. Mehr kaufen, weniger ausgeben. Das ist gut für den Geldbeutel, aber auch fürs Gewissen?

Kleidung als Wegwerfware

"Wir behandeln Kleidung nicht anders als einen Joghurtbecher oder einen Müslikarton - also als Wegwerfware", sagt Kirsten Brodde, 54, Textilexpertin von Greenpeace. Brodde hat mehrere Bücher zum Thema geschrieben. Zuletzt einen Ratgeber für all die, die keine Lust mehr auf Wegwerfmode haben.

Brodde erkennt eine Gegenbewegung zu Fast Fashion, der sie mit ihrem Buch auch eine Stimme verleihen will. Für sie ist auch der wachsende Secondhandmarkt Teil dieser Bewegung. "Das zeigt doch, dass sich die Menschen wieder bewusster mit Kleidung auseinandersetzen", sagt Brodde.

Auch wenn Secondhandmode generell teurer geworden ist, sieht Brodde noch immer ausreichend Möglichkeiten, sich in jeder Preisklasse mit getragener Mode einzudecken. Sie selbst ist sogar schon einen Schritt weiter - und leiht sich Kleidung aus.

Was bei Autos, Musik, Büchern oder Fahrrädern längst funktioniert, versucht Brodde seit zwei Jahren auch mit Kleidung. "Das ist nicht nur ökologisch und fair, es bringt auch neue Looks in den Schrank", sagt Brodde. Sie selbst leiht ihre Kleidung über Stay Awhile. Auch Anbieter wie Kleiderei oder Myonbelle liefern eine Leihgarderobe nach Hause - abgestimmt auf den persönlichen Geschmack.

Für Andreas Voget, 61, ist jede Idee, die den Textilkonsum ein bisschen nachhaltiger macht, eine gute. Voget ist Geschäftsführer des Dachverbandes FairWertung e.V., einem Zusammenschluss gemeinnütziger Alttextilsammler, und er warnt vor den Folgen der Textilflut. Erstmals landeten im vergangenen Jahr eine Million Tonnen Alttextilien in den Containern. "Die Menge an Textilien hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, zugleich hat sich ihre Qualität drastisch verschlechtert", sagt Voget. Nur etwa die Hälfte der Textilien lasse sich noch für den Secondhandmarkt verwerten. Der Rest werde zu Rohstoffen und Putzlappen weiterverarbeitet.

Die übrige Secondhandkleidung ist für die Länder, die damit handeln, Fluch und Segen zugleich. Die abgetragene Kleidung wird in Deutschland angeboten, aber auch nach Osteuropa, in den Nahen Osten oder nach Afrika verkauft. Erste Staaten - etwa die der Ostafrikanischen Gemeinschaft (EAC) - machten sich für einen Importstopp von abgetragener Ware aus Europa stark. In diesem Jahr sollte es losgehen, doch die Durchsetzung erweist sich als schwierig.

Werden Klamotten bald teurer?

Voget sieht in der großen Menge an immer schlechteren Textilien eine "Überlastung der gesamten Verwertungskette". Die Verwertung sei dadurch hierzulande ein "Zuschussgeschäft" geworden, denn die Kosten für das Einsammeln, Sortieren und Transportieren steigen. "Wenn diese Tendenz anhält, werden wir bald darüber diskutieren müssen, wer das eigentlich bezahlt", sagt Voget.

Anders als etwa bei Elektronikartikeln oder beim Verpackungsrecycling, wo bereits beim Kauf des Artikels eine Umlage für die Wiederverwertung draufgeschlagen wird, ist die Abgabe von Altkleidern in Deutschland kostenlos. Das klappte lange gut. Der Markt regulierte sich durch den Verkauf von Altkleidern selbst und subventionierte so auch die minderwertigen Textilien mit. Doch wenn der Trend immer weiter in Richtung Fast Fashion geht, so prognostiziert Voget, wird dies auch Folgen für die Secondhandbranche haben: "Das Angebot an Secondhandkleidung wird abnehmen, die Preise für Neutextilien durch eventuelle Umlagen steigen", sagt Voget. Er plädiert daher für den Kauf von langlebiger Kleidung.

Einige Unternehmen haben sich bereits umgestellt. Die Jeansmarke Nudie etwa bietet kostenlose Reparaturen an, ebenso die Outdoormarke Patagonia; The North Face verkauft selbst Secondhandware. Auch Tchibo ist hier Vorreiter, etwa mit einem Verleihservice für Kinderkleidung. Zumindest Teile der Branche scheinen also verstanden zu haben. Voget begrüßt das Umdenken - er selbst ist überzeugter Secondhandler.

Das wird auch Ruben Deppe bleiben. Vielleicht sogar noch überzeugter als zuvor. Mit "Used" wird er bald in größere Räumlichkeiten in Bielefeld ziehen. Nicht mehr 40, sondern 140 Quadratmeter. Kein Ein-Mann-Betrieb mehr. "Die Nachfrage ist ja da", sagt Deppe, "mal schauen, was geht."

Zusammengefasst: Der Markt mit Secondhandkleidung ist seit Beginn des Jahrtausends extrem gewachsen. Secondhandmode ist gesellschaftsfähig geworden und mittlerweile auch für Menschen mit prallerem Geldbeutel interessant. Die immer größeren Mengen an Textilien von schlechter Qualität stellen die Branche bei der Wiederverwertung jedoch auf die Probe.

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