Struktureller Sexismus und Rassismus durchziehen die europäische Neuzeit. So wenig Zweifel an diesem geschichtswissenschaftlichen Befund bestehen, so selten gelingt es in der deutschsprachigen Literatur, diesen literarisch umzusetzen. Die in London geborene und in Berlin lebende Otoo, deren Eltern aus Ghana stammen, nähert sich diesen Themen in ihrem auf Deutsch verfassten Debütroman „Adas Raum" mit großer Raffinesse.
Ada, die Protagonistin, wird über Jahrhunderte wiedergeboren, wie genau, bleibt den Leserinnen und Lesern verborgen. Von 1459 bis 2019 verfolgen verschiedene Erzählperspektiven das Leben vierer Versionen dieser Frau, deren Erfahrungen sich je nach Kontext variieren, aber auf bedrückende Weise nicht bessern.
So begegnet man Ada das erste Mal als junger Fischerin auf dem Gebiet des heutigen Ghana, kurz vor der Ankunft einer portugiesischen Expedition. Dass diese Episode nur das Vorspiel zum brutalen Sklavenhandel an der „Costa do Ouro" ist, kristallisiert sich langsam und subtil heraus. Otoo beherrscht die Kunst des Cliffhangers und schafft es durch sich schnell abwechselnde Episoden, die Spannung über mehr als 300 Seiten zu halten.
Männer als BedrohungIn der zweiten Episode wird Ada zur Mathematikerin Ada Lovelace, die heute als Vorläuferin moderner Programmierarbeit gilt. Otoo ist souverän darin, Fakt und Fiktion zu verbinden. In „Adas Raum" unterhält Lovelace eine Affäre - im Roman im Duktus der viktorianischen Zeit „besondere Freundschaft" genannt - mit Charles Dickens.
Sowohl das Aufeinandertreffen mit den portugiesischen Eindringlingen als auch die Affäre enden für die beiden Adas fatal. Die Männer in „Adas Raum" sind hauptsächlich physische und emotionale Bedrohung: „Ich hätte den Streit mit ihm vermeiden können, wenn ich ihm uneingeschränkt recht gegeben hätte. Das pflegte ich meist zu tun, denn es war äußerst strapaziös, gerade in jenen Zeiten, Dispute mit Männern wie Charles zu führen", heißt es aus Lovelaces Perspektive über Dickens.
Allwissende ObjekteÜberhaupt erweist sich Otoo als Meisterin im Einsatz von Erzählperspektiven. Die Perspektiven der Adas werden nämlich um eine Erzählstimme ergänzt, die ebenfalls immer neu geboren wird, allerdings als Gegenstand. Schon in ihrem Siegertext beim Bachmannpreis „Herr Gröttrup setzt sich hin" erzählte Otoo teilweise aus der Perspektive eines Frühstückeis. In „Adas Raum" nimmt die Objektperspektive die Formen eines Besens, eines Türknaufs einer KZ-Baracke und eines britischen Reisepasses an.
Nur durch diese Perspektivenerweiterung gelingt die heikle, dritte Station Adas. Im März 1945 ist sie Zwangsprostituierte im KZ Mittelbau-Dora in Thüringen. Jede Darstellung der nationalsozialistischen Massenvernichtung in der deutschsprachigen Literatur wurde intensiv auf die Legitimität ihrer Erzählhaltung und Perspektive befragt. Otoo kommt dieser Befragung zuvor: „Die aufmerksam Lesenden unter euch werden sich möglicherweise fragen, wie ein KZ-Zimmer überhaupt ein Geschehen bezeugen kann, das vor den Toren Doras stattfindet. Recht hättet ihr."
Feministische AllschauDas wiederholte Leid der Adas, bis hin zur Version, die 2019 als schwangere Ghanerin mit britischem Pass am überfüllten Wohnungsmarkt Berlins Alltagsrassismus erfährt, ist dabei immer aus der Erfahrung der jeweiligen Figur heraus beschrieben. Leitmotive und sprachliche Versatzstücke wiederholen sich über die Zeitebenen - im Roman „Zeitschleifen" genannt - und Perspektiven hinweg.
„Adas Raum" schafft es, über Wahrscheinlichkeiten und Wiederholungen strukturelle Gewalt und Ungerechtigkeiten zu erzählen, anstatt eine Analyse in eine Fabel zu gießen. Keine Form der Diskriminierung wird hier voneinander abgeleitet oder gegeneinander aufgewogen. Damit weicht Otoo von vornherein dem häufigen Vorwurf eines „Thesenromans" aus.
Literatur mit politischen ÜberzeugungenDass Otoo aber ihre politischen Überzeugungen in ihre Texte umsetzt, erklärte sie dezidiert bereits in ihrer Klagenfurter Rede zur Literatur „Dürfen Schwarze Blumen Malen?" im Rahmen der Eröffnung des Bachmannpreises 2020. Darin zeigte sie sich überzeugt, man müsse „die Kämpfe gegen Antisemitismus und Anti-Schwarzen-Rassismus zusammenzudenken".
Sie selbst wolle in ihrem Schreiben „auf gesellschaftliche Missstände hinweisen". Das stelle sie in die Tradition von Geoffrey Chaucer, Bertolt Brecht, Heinrich Böll und eben Dickens. In ihrer Rede spielte sie damals auch auf Peter Handkes entrüstete Entgegnung im Zuge der Kontroverse über seine Nobelpreisverleihnung an: „Ich komme vielleicht nicht von Homer, aber ich schreibe im warmen Schatten des nigerianischen Autors Chinua Achebe", so Otoo.
Ihren damals formulierten Anspruch löst Otoo in ihrem Debüt gänzlich ein. „Adas Raum" ist ein Buch, das kontroverse und unangenehme Fragen zu Schuld und struktureller Gewalt aufwirft. Dadurch, dass Otoo eine überzeugende literarische Form für diese Fragen findet, wird der Roman zum Glücksfall für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur.