Jeder zweite Flüchtling in Deutschland ist psychisch krank. Viele mussten Gewalt miterleben, in ihrer Heimat oder auf der Flucht. Doch sie scheuen sich davor, Hilfe zu suchen. Treffen mit einem Betroffenen.
Der Mann, der sich Momand nennt, öffnet eine Verpackung mit der komplizierten Aufschrift „Trimipramin Neuraxpharm“ und wirft sich eine Tablette in den Mund. „Gegen die Angst“, sagt der 22-jährige Mann aus Afghanistan. Sein schwarzes Haar ist zerzaust, die Augen funkeln grün.
Er fürchtet jeden Tag, in seine Heimat abgeschoben zu werden. Und obwohl er seit zwei Jahren in Deutschland lebt, wartet er immer noch auf das Ergebnis seines Asylantrags. Momand steht vor einer ungewissen Zukunft. Das macht ihn krank – vor Sorge. Dabei ist er schon traumatisiert, von den Erlebnissen in Afghanistan und während seiner Flucht.
„Ich wäre auch depressiv“, sagt seine Psychologin
Momand ist einer von vielen Geflüchteten, die psychisch erkrankt sind. Einer Studie aus dem Jahr 2015 zufolge leiden über 60 Prozent der Flüchtlinge an psychischen Problemen. Darunter fallen Depressionen und Angstzustände und auch körperliche Leiden, für die Ärzte keine Ursache finden.
Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer (BPTK) zufolge erkranken jedes Jahr in Deutschland durchschnittlich ein Drittel der Erwachsenen an einer psychischen Krankheit. Der höhere Anteil unter den Geflüchteten ist dadurch zu erklären, dass sie in ihrer Heimat Krieg und Gewalt ausgesetzt waren. Zusätzlich gerieten viele auf ihrer Flucht in Lebensgefahr.
Die meisten sind laut der Psychologin Jutta Bierwirth an einer Traumafolgestörung erkrankt. Betroffene klagen dabei über Depressionen, Panikattacken und die Angst, sich in Menschenmassen aufzuhalten oder öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Sie berichten häufig von schrecklichen Bildern während oder vor ihrer Flucht, die sich immer wieder wie ein Film vor ihren Augen abspielen.
Das lange Warten auf das Ergebnis ihres Asylantrags belastet die Menschen zusätzlich. „Ich wäre auch depressiv, wenn ich Jahre in Unsicherheit lebe, weil ich nicht weiß, ob mein Antrag bewilligt wird“, sagt Bierwirth. Sie arbeitet für das Zentrum für Psychotherapie und Prävention in Bonn. Das Interesse an der Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten hat sie während ihres Studiums entdeckt – die Hälfte ihrer Patienten sind Menschen, die nach Deutschland geflohen sind.
Drei Tage im Gefängnis ohne Essen und Trinken
Momand heißt eigentlich anders. Seine Identität möchte er öffentlich nicht preisgeben. Er ging zu einen Arzt, nachdem seine Ängste schlimmer wurden und der 1,70 Meter große Mann von 57 auf 48 Kilogramm abmagerte. Der Arzt verschrieb ihm Medikamente und riet ihm zu einer Therapie. Zwei Ursachen sind für Momands Ängste verantwortlich: Zum einem fürchtet er, nach Ungarn abgeschoben zu werden, da die Behörden ihn dort zum ersten Mal als Geflüchteten registrierten.
Die drei Tage, die er in einem kleinen Gefängnis in Ungarn mit über 130 Männern bleiben musste, waren für ihn die schlimmsten Tage seines Lebens. Ungarn ist zwar Mitglied der Europäischen Union – trotzdem bekamen die Männer kein Essen und kein Trinken. 130 Männer mussten sich eine Toilette teilen.
Sein gutes Englisch war für die Taliban alarmierend. Sie verdächtigten ihn, ein amerikanischer Spion zu sein und verfolgten ihn. Er entschied, aus seinem Heimatland zu fliehen. Bis heute hat er keinen Kontakt zu seinen Eltern gehabt. Falls er zurück nach Afghanistan müsste befürchtet er, dass die Taliban ihn töten.
„Von 30 Leuten sind am Ende acht angekommen“
Geflüchtete erhalten nach der Ankunft oft nur schwer Hilfe. Erst 15 Monate später händigen Städte und Gemeinden ihnen Krankenkarten aus, die etwa mit gewöhnlichen Krankenkarten vergleichbar sind. Die Psychologin Bierwirth behandelt die Geflüchteten zwar auch ohne Versicherungskarte, doch das ist schwieriger, da Geflüchtete dann eigentlich nur bei schlimmen Schmerzen versorgt werden dürfen – psychische Leiden zählen nicht dazu.
Meistens sprechen Bierwirths Patienten kein Deutsch. Dann versucht sie es mit Englisch. Wenn auch das nicht klappt, muss sie extra einen Übersetzer anfordern.
Momand flieht innerhalb eines Jahres über Pakistan, den Iran, die Türkei, Bulgarien und Serbien, bis er im April 2015 in Frankfurt ankommt. Er ist 22 Jahre alt, wirkt aber viel älter, wenn er erzählt wie er während des Fußmarsches durch Bulgarien fast gestorben wäre. „Ich habe täglich daran gedacht, dass heute mein letzter Tag auf dieser Erde sein könnte“. Viele verloren auf der Strecke ihre Kraft und seien mitten im Niemandsland kraftlos umgekippt.
Momand glaubt, dass viele von denjenigen gestorben sind. „Niemand war dort in den Wäldern bei uns, um zu helfen“, sagt er, „von 30 Leuten sind am Ende acht in Serbien angekommen“. Erst später erinnerte er sich an die traumatischen Bilder. Das kommt Bierwirth bekannt vor: „Geflüchtete befinden sich während der Flucht oft im Überlebensmodus, sodass psychische Probleme erst später zum Vorschein kommen“.
Nach den vielen Geflüchteten 2015 seien zu der Psychologin Bierwirth nicht mehr Patienten als üblich gekommen. „Viele werden aber nach und nach bei mir in der Praxis erscheinen, weil viele oft nicht auf die Idee kommen, dass ihre Probleme psychisch sind“, sagt sie.
Im August beginnt Momand endlich eine Ausbildung
Bierwirth kritisiert die Situation der Geflüchteten. Die Sammelunterkünfte hält die Psychologin für ungünstig. In den überfüllten Unterkünften haben Geflüchtete keine Ruhe. „Viele wollen gerne arbeiten, damit sie nicht ständig mit ihren Problemen beschäftigt sind“, sagt die Psychologin.
Zurzeit gibt es weit über 30 psychosoziale Zentren, die meist unabhängig vom Gesundheitssystem Geflüchtete behandeln. Finanziert werden sie über Spenden und unter anderem durch Zuschüsse der Europäischen Union oder Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International. Zudem gibt es Projekte, bei denen ungeschulte Helfer mit Geflüchteten deren traumatische Erlebnisse aufarbeiten.
Momand wohnt schon länger nicht mehr in einem Asylbewerberheim. Mittlerweile lebt er mit vier anderen Afghanen in einer WG. „Wir sind eine Familie geworden“, sagt er. Ab August wird er eine Ausbildung beginnen und zurzeit lernt er für den Führerschein.
Momand würde sich gerne an einer Universität einschreiben, wenn er eine bessere Perspektive in Deutschland hat. Zumindest muss er nicht befürchten, nach Ungarn abgeschoben zu werden, weil seit einiger Zeit die deutsche Ausländerbehörde für ihn zuständig ist. Noch erlaubt sie ihm den Aufenthalt für ein halbes Jahr in Deutschland. Seine Chancen stehen gut, dass er länger bleiben darf.
Nachdem er die Tablette mit dem Wirkstoff „Trimipraminmaleat“ eingeworfen hat, verabschiedet er sich. Er geht arbeiten. „Das lenkt mich von Problemen ab“.
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