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Angst

„Angst haben wir alle. Der Unterschied liegt in der Frage wovor“, schrieb einst der Schriftsteller Frank Thiess. Er floh Ende des 19. Jahrhunderts als Dreijähriger mit seiner Familie nach Berlin. Sogenannte „Russifizierungsmaßnahmen“ vertrieben ihn und seine Familie aus Lettland. Es ist eine Fluchtgeschichte, wie so viele. Die Ursachen dafür sind so vielfältig und unterschiedlich wie Menschen selbst. Die Intention der Menschen ist jedoch meistens gleich: Ein Leben in Freiheit und Frieden. Der Weg dorthin ist beschwerlich, mit Angst verbunden. Es ist schwer, sich in einen Flüchtling hineinzuversetzen, falls man nie zu einer Flucht gezwungen war.
 
Hunderttausende sind dieses Jahr in die Bundesrepublik Deutschland eingereist: Darunter Syrer, Afghanen, Albaner sowie Eritreer, die sich auf den Weg gemacht haben. Auf der einen Seite erfahren sie Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft, auf der anderen Seite offene Ablehnung, Bedrohung und Hass. Hilfsbereitschaft auf der einen Seite und Fremdenfeindlichkeit auf der anderen Seite stehen sich präzise abgetrennt gegenüber. Noch überwiegt die Hilfsbereitschaft, doch die Fremdenfeindlichkeit wächst wie ein bösartiger Tumor, dessen Bedrohlichkeit durch Brandschatzen und rassistische Äußerungen zutage gefördert wird und an ein finsteres Stück deutscher Geschichte erinnert. Während der Weltmeisterschaft 2006 lautete die Botschaft: „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Galt dies damals nur für zahlende Touristen? Flüchtende sind in den Augen von der rechtspopulistischen AfD, der islamfeindlichen Organisation Pegida oder den „besorgten Bürgern“ im Allgemeinen keine Freunde. Sie sind eher Feindbild und Mittel zum Zweck, um politisch verwertbare Stimmung zu erzeugen. Die wichtige historische Aufgabe in Deutschland ist es nun, den Asylbewerbern unsere Werte zu vermitteln, „alte“ und „neue“ Deutsche zusammenzubringen und Ängste abzubauen. An letzterer Aufgabe sind wir bisher kläglich gescheitert.
 
Angst dominiert die Flüchtlingsdebatte. Einwohner aus einem Ort befürchteten beispielsweise Einbrüche und Nachbarn wollten sogar ihre Töchter im Dunklen nicht mehr alleine ausgehen lassen, als bekannt wurde, dass in dem 1200-Seelen-Ort eine Asylbewerberunterkunft errichtet werden würde. Ein Jahr später ist weder jemand bestohlen worden, noch ist ein Mädchen Opfer eines Gewaltaktes geworden. Doch wo Angst vor Gewalt herrscht, ist auch automatisch Gewaltpotenzial vorhanden. In einem Punkt kann man sich sicher sein: Wenn in dem Ort etwas Schlimmes passiert wäre, hätten womöglich einige Bewohner Fackeln und Mistgabeln entstaubt, sie aus dem Keller geholt und brüllend vor dem Heim gepoltert. Treffend formulierte es der Wiener Flüchtlingskoordinator Peter Hacker: „Wo die Menschen viel haben, haben sie viel zu verlieren“.
 
Doch nicht immer steht die unmittelbare Angst vor Islamisierung oder gar einem Terroranschlag im Vordergrund. In einem irischen Pub im Osten Deutschlands waren vier Männer, die über Pegida sprachen. Alle hatten bereits die Demo in Dresden besucht. Die Männer gaben an, sich vor einer „Islamisierung“ zu fürchten. Später kam heraus, dass sie nicht in erster Linie Angst vor Muslimen hatten. Eher untergeordnet war die Furcht vor den einreisenden Neuankömmlingen. Einer hatte Angst vor Arbeitslosigkeit, ein anderer fürchtete die immer schmaler werdende Polizeipräsenz im Osten und einem weiteren war die Bildungspolitik in Sachsen-Anhalt ein Dorn im Auge.
 
Der größte Nachteil an angsterfüllter Massenpsychose ist die Unberechenbarkeit. Entscheidungen werden nicht rational gefällt, sie werden hektisch, unüberlegt und emotional getroffen. Wie ist es sonst ansatzweise zu erklären, dass ein unbescholtener Finanzbeamter eine Flüchtlingsunterkunft ansteckt, in jene einen Tag später die ersten Bewohner ziehen sollen? So ist es zumindest kürzlich in Hamburg geschehen. Uns allen muss bewusst sein, dass dies zukünftig öfter passieren wird. Es wird sowohl bei der Integration Probleme geben, gleichwohl werden Angriffe auf Flüchtlinge zunehmen. Es bleibt zu hoffen, dass es nicht bald die ersten Todesopfer einer hasserfüllten Ideologie geben wird.
 
Terroranschläge sind keine Erfindung des Islams und Ausländerfeindlichkeit steckt nicht im deutschen Erbgut. Niemand wird als Terrorist, Islamfeind, Gewalttäter oder Neonazi geboren. Die Welt könnte und sollte ein besserer Ort sein. Ist sie aber nicht, war sie nicht; wird sie vermutlich nie sein. Der Konjunktiv hilft in den unterschiedlichen Konflikten auf diesem Planeten nicht. Er ist keine Lösung für Hass und Angst. Utopisch ist die Vorstellung einer Welt, in der nur Menschen ohne Vorbehalte leben.
 
Bürger, bevorzugt überzeugte Demokraten, müssen in Debatten Haltung zeigen und dürfen sich das Zepter der Vernunft und Deutungshoheit nicht aus der Hand reißen lassen. Mut ist ein natürlicher Feind der Angst. Um sie zu bekämpfen, ist entschlossenes und mutiges Handeln besonders in schwierigen Zeiten ein kostbarer Rohstoff – wenn nicht sogar der wichtigste. Davon muss es in Deutschland jetzt und zukünftig viel mehr geben. Es ist wichtig, sich endlich aus dem stetig enger werdenden Korsett der Angst zu befreien: mutiger werden, mutiger auftreten und mutiger Haltung zeigen. Ansonsten steht man in ferner Zukunft vor dem Spiegel, betrachtet sein angsterfülltes Gesicht und schämt sich, in der historischen Stunde der Flüchtlingsintegration nicht entschlossener aufgetreten zu sein.

Anm. : Der Text war einer von zehn Finaltexten des Wettbewerbes Duden Open

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