Felix Huesmann

Reporter im Hauptstadtbüro des RedaktionsNetzwerks Deutschland, Berlin

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Gefährliche Verschwörungstheorien vom Ende der Demokratie

dpa

Berlin. Attila Hildmann steht auf dem Platz der Republik und genießt nicht nur die Sonne, sondern auch die Aufmerksamkeit. Der vegane Kochbuchautor und Unternehmer ist umringt von Journalisten und Fans. In den vergangenen Wochen hatte sich Hildmann als Verschwörungstheoretiker geoutet und in den sozialen Medien gegen die Corona-Schutzmaßnahmen von Bund und Ländern agitiert - flankiert von Bildern und Videos, die ihn mit Schusswaffen zeigen. "Wir können davon ausgehen, dass ganz zufällig in den nächsten Wochen hier irgendwo auf der Welt 'ne Bombe hochgeht mit 'nem gefährlicheren Virus, und dann ist Jens Spahn der mächtigste Mann im Land", sagt Hildmann.

Er befürchtet die Einführung einer Diktatur in Deutschland. Deshalb hatte er für den 6. Mai zu einer nicht angemeldeten Demonstration vor dem Reichstagsgebäude aufgerufen - einer "Freiheitsdemo für das deutsche Volk". Kurz nach dem Ende seiner Reden über Bill Gates, finstere Freimaurer-Weltverschwörungen und einen angeblich drohenden Corona-Impfzwang ist die Demo für Hildmann jedoch bereits vorbei, bevor sie richtig begonnen hat. Die Berliner Polizei erteilt ihm einen Platzverweis. Unter "Ehrenmann"-Rufen seiner Fans verlässt er mit Freundin und Hundewelpen die Reichstagswiese.

Attila Hildmann verbreitet mit einem Grundgesetz in der Hand Verschwörungserzählungen über Bill Gates und die Freimaurer. © Quelle: Felix Huesmann

Auf seinen Facebook- und Instagram-Profilen und besonders in der Messenger-App Telegram hat sich Hildmann in den letzten Wochen zu einem der prominentesten und schrillsten Verbreiter von Verschwörungstheorien rund um die Corona-Pandemie entwickelt. Zusammengefasst: Das Virus hält er für ungefährlich, die Pandemie für eine Inszenierung dunkler Mächte, um der Weltbevölkerung ihre Freiheit zu nehmen. Als großen Widersacher in der deutschen Politik hat Hildmann Gesundheitsminister Jens Spahn ausgemacht. Der eigentliche Oberschurke, so stellt der Veganunternehmer es dar, sei jedoch der US-Multimilliardär Bill Gates.

Der Microsoft-Gründer und dessen Ehefrau Melinda setzen ihr Vermögen und ihre Prominenz schon seit Jahren für die Bekämpfung von Krankheiten ein. Ihre Stiftung finanziert Impfprogramme, unterstützt die Weltgesundheitsorganisation und spendet an zahlreiche Nichtregierungsorganisationen und Forschungseinrichtungen. Auch in der Corona-Krise unterstützt Bill Gates die Forschung und Entwicklung eines möglichen Impfstoffs. Hildmann und viele andere Verschwörungstheoretiker im Internet wie auf den Demonstrationen der selbst ernannten "Corona-Rebellen" sehen in Gates jedoch keinen Philanthropen, sondern einen gefährlichen Verschwörer, der die Weltbevölkerung reduzieren und die Menschheit knechten will. "Wundert euch nicht, wenn er euch in Zukunft mit einer Spritze krank macht, sterilisiert oder tötet", schreibt Attila Hildmann. Belege, oder auch nur glaubwürdige Indizien für derartige Behauptungen gibt es nicht. Im Gegenteil: Sie wurden bereits vielfach widerlegt.

Wird am 15. Mai die Diktatur eingeführt?

Und doch werden sie seit Jahren immer wieder verbreitet, abgewandelt und an aktuelle weltpolitische Entwicklungen angepasst. In Zeiten der Corona-Pandemie genießen solche Verschwörungserzählungen Hochkonjunktur. Unsicherheiten und Krisen im Globalen wie im Privaten lassen Menschen nach Mustern suchen, nach einem Plan, der die vielen Unbekannten erklärt und dem Geschehen einen subjektiven Sinn gibt. In den vergangenen Monaten hat sich ein breiter Kanon herausgebildet, der aus alten und neuen Erzählungen besteht, aus Verschwörungstheorien, die einander oft ergänzen und sich aufeinander beziehen, die jedoch oft auch in logischen Widersprüchen zueinander stehen. Mal stellen sie das Coronavirus als ungefährlich dar oder leugnen seine Existenz, mal als gefährliche Biowaffe. Den meisten Anhängern dieser Verschwörungstheorien ist jedoch gemein, dass sie einen gezielten Angriff des Staates auf die Grund- und Freiheitsrechte der Bürger wittern und in das Zentrum ihrer Erzählungen stellen.

Für Attila Hildmann und einige andere deutsche Verschwörungstheoretiker sind diese vermeintlichen Bedrohungen derzeit nichts Abstraktes: Sie wittern ein Ende der Demokratie bereits in wenigen Tagen. Als Tag X haben sie den 15. Mai ausgemacht. An diesem Tag soll der Bundesrat dem neuen Infektionsschutzgesetz zustimmen, dessen Verabschiedung im Bundestag am 14. Mai erwartet wird. Der Gesetzentwurf war in die Kritik geraten, weil Jens Spahn damit ursprünglich die Einführung eines "Immunitätsausweises" plante. Nach Ablehnung dieses Vorstoßes durch die SPD wurde das Vorhaben jedoch gestrichen. Viele Verschwörungstheoretiker sahen darin die heimliche Einführung einer Impfpflicht. Der Faktencheck zeigt jedoch: Das hat mit der Realität nichts zu tun - und eine Abschaffung von Demokratie und Grundrechten noch viel weniger.

Die Verschwörungstheoretiker halten trotzdem sogar nach Spahns Rückzieher an diesem Szenario fest. Attila Hildmann bezeichnet das Infektionsschutzgesetz in seinem Telegram-Kanal etwa als "Ermächtigungsgesetz" - in Anspielung auf jenes Gesetz aus dem März 1933, das Adolf Hitler unbegrenzte Macht zusicherte. Hildmann ruft seine Fans zum Widerstand, zu einer Revolution auf. Wenn die Pläne der Regierung nicht innerhalb der nächsten Tage gestoppt würden, erklärt er, drohten "Eugenik und Völkermord".

Ein Bill-Gates-Gegner bei der Verschwörungstheoretiker-Demo vor dem Berliner Reichstagsgebäude. © Quelle: Felix Huesmann

Darum sind diese Verschwörungserzählungen so gefährlich

"Solche Erzählungen von einem Tag X können Menschen dazu mobilisieren, gewalttätig zu werden", sagt Pia Lamberty. Die Psychologin forscht an der Universität Mainz zu Verschwörungstheorien und hat gemeinsam mit Katharina Nocun das Buch "Fake Facts - Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen" geschrieben, das am 29. Mai im Quadriga-Verlag erscheint. "Wenn Menschen wirklich davon überzeugt sind, dass an diesem Tag die Diktatur errichtet wird", erklärt Lamberty, "besteht die Möglichkeit, dass sie nicht mehr bloß demonstrieren, sondern zu gewalttätigen Mitteln greifen, um sich Gehör zu verschaffen."

Überhaupt gehe der Glaube an Verschwörungen mit einer "stärkeren Affinität zu Gewalt und einer stärkeren Legitimation von Gewalt einher", so die Psychologin. Die Forschung zu Verschwörungstheorien habe gezeigt, dass Verschwörungsgläubige weniger demokratische Möglichkeiten nutzen, um sich politisch zu äußern oder zu betätigen. "Sie greifen eher zu Mitteln außerhalb des demokratischen Spektrums, bis hin zur Gewalttätigkeit."

"Wir haben in Studien beispielsweise die Bereitschaft abgefragt, Brandanschläge oder Gewalt gegen Einzelpersonen einzusetzen, um ein politisches Ziel durchzusetzen", erklärt die Psychologin. "Je stärker die Verschwörungsmentalität der Befragten war, desto wahrscheinlicher haben sie auch gesagt, dass sie zu solchen Mitteln greifen würden."

Lamberty warnt: "Die Frage ist, ob wirklich die aktuell stattfindenden Demonstrationen die Hauptgefahr sind oder ob das nicht auch dazu führen kann, dass Menschen Anschläge begehen."

Verschwörungstheoretiker mit Zugriff auf Schusswaffen

Beunruhigend sind in diesem Zusammenhang nicht nur Attila Hildmanns Verschwörungsglaube und seine Aufrufe zur "Revolution". Gleich mehrfach zeigte er sich in den vergangenen Wochen auf seinen Social-Media-Kanälen mit Schusswaffen. In seiner Instagram-Story schrieb er am 8. Mai: "Attila Hildmann fürchtet keine Satanisten und Kinderficker! Sie sollten ihn fürchten!" Direkt im Anschluss ist er auf einem Schießstand zu sehen. In den Händen hält er eine Pumpgun, mit der er mehrere Schüsse abgibt. Als "Satanist" und "Kinderficker" beschimpft Hildmann etwa Bill Gates. An anderer Stelle schrieb der Kochbuchautor und Unternehmer: "Gehe ich im Kampf für unsere Freiheit drauf, dann nur mit Waffe in der Hand und erhobenen Hauptes!" Mehrfach fantasierte er außerdem, der Staat wolle ihn umbringen, weil er die "Wahrheit" verbreite.

Attila Hildmann auf dem Schießstand. © Quelle: Screenshot: RND

In seinem Telegram-Kanal richtete sich Hildmann am 4. Mai "an alle Polizisten, die hier mitlesen". "Ich trage keine Waffe bei mir, die Bilder sind vom Schießstand, wo ich meine WBK mache", schrieb er. Eine WBK - kurz für Waffenbesitzkarte - erlaubt es ihrem Inhaber, scharfe Schusswaffen zu kaufen und zu besitzen, etwa um einem Hobby als Sportschütze nachzugehen. Laut dem Waffengesetz wird dafür eine "erforderliche Zuverlässigkeit und persönliche Eignung" vorausgesetzt.

Nicht immer erkennen die Behörden jedoch eine mangelnde Eignung: Auch Tobias R., der Attentäter von Hanau, besaß ganz legal mehrere Schusswaffen - obwohl er rechtsextremen Verschwörungstheorien anhing und offenbar psychisch krank war. Ob Attila Hildmanns Äußerungen der Erteilung einer Waffenbesitzkarte entgegenstehen, wollte die Berliner Polizei als Waffenbehörde auf Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) nicht mitteilen. Auch ob aufgrund der Posts gegen Hildmann ermittelt werde, kommentierte die Behörde aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht.

Hildmann-Fans mit Kopftuch demonstrieren gemeinsam mit Neonazis

Nach Xavier Naidoo ist Attila Hildmann der zweite deutsche Prominente, der in jüngster Zeit nicht nur Falschbehauptungen und Verschwörungstheorien über die Corona-Pandemie verbreitet hat, sondern bei dem eine rasante Radikalisierung in Echtzeit zu beobachten ist. In beiden Fällen werden die verbreiteten Behauptungen und Erzählungen nicht nur gefährlicher, sondern auch zunehmend obskurer. Naidoo ist längst in der Welt der "Flacherdler" angekommen, Hildmann verbreitet mittlerweile sogar die Behauptung, das neuartige Coronavirus sei durch "Chemtrails" in Umlauf gebracht, also heimlich von Flugzeugen versprüht worden.

Trotzdem erreichen beide ein großes Publikum. Xavier Naidoo ist mittlerweile der wohl reichweitenstärkste Verbreiter solcher Verschwörungstheorien, und Attila Hildmann gibt sich alle Mühe, in dessen Fußstapfen zu treten. "Prominente sind oft nicht nur geübt in der Kommunikation mit ihren Fans, sondern wirken auf die auch vertrauenswürdig. Dadurch haben sie mehr Möglichkeiten, Menschen von ihren Ideen zu überzeugen und sie mitzureißen", sagt Pia Lamberty.

Wie erfolgreich das ist, zeigt die Demonstration vor dem Reichstagsgebäude, zu der Attila Hildmann aufgerufen hatte. Als der Veganunternehmer selbst bereits weg ist, füllt sich die Reichstagswiese immer weiter. Um die 400 Personen versammeln sich dort laut Polizeiangaben. Die Teilnehmer sind bunt gemischt: Rechtsextreme und "Reichsbürger" sind gekommen, aber auch muslimische Frauen mit Kopftuch und junge Türkisch sprechende Männer. Hippies stehen hier neben Männern in Rocker-Kutten. Viele der Versammelten sind offenbar Fans und Follower Hildmanns. Die Polizei weist immer wieder Menschen auf den verordneten Mindestabstand von 1,50 Metern hin, fordert Demonstranten auf, keine Plakate und Transparente hochzuhalten, weil es sich nicht um eine angemeldete Demonstration handelt. Nach und nach führt die Polizei Einzelpersonen ab, die sich den Anweisungen widersetzen.

Die Menge reagiert darauf immer wieder mit lauten "Wir sind das Volk"-Rufen und Pöbeleien gegen die Polizei. Die Stimmung wird zunehmend aggressiver. Sie richtet sich auch gegen die Journalisten vor Ort. Eine junge schwarze Frau mit Tattoos und Dreadlocks ruft mehrfach laut "Lügenpresse". Wenig später löst sich ein 46-jähriger Mann, Sportschuhe, Jeans, schwarze Jacke, aus der Menge und tritt in Richtung eines Kamerateams der ARD. Er trifft die Tonangel des Tonassistenten, die daraufhin dem Kameramann auf den Kopf schlägt. Der Angreifer wird Sekunden später von einem Hundertschaftszug der Berliner Polizei überwältigt und festgenommen.

Auch diesen Vorfall wird Hildmann später für seine Propaganda nutzen: In den sozialen Medien teilt er ein geschnittenes Video, das lediglich die ruppige Festnahme und nicht den vorausgegangenen Angriff zeigt. Er betitelt das Video in Großbuchstaben: "POLIZEISTAAT".

Schon an diesem Samstag will Hildmann erneut vor dem Reichstagsgebäude demonstrieren. Alle, die eine Diktatur verhindern wollten, sollten dort hinkommen, schreibt er in seinem Telegram-Kanal. Und er hat offenbar große Pläne: "ICH BIN HIER BALD DER NEUE STAATSCHEF! Wurde für diese Zeit geboren! Und um das schlimmste zu verhindern!"

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