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Unheil

„Wir waren glücklich und unendlich froh,
wir waren zusammen und liebten uns so.“

Der Mann muss jetzt los. Er greift nach den Tüten, Lidl, Kaufland, Rewe, die teuren, aus dem guten Plastik, mit dem festen Griff. Es sind keine fünf Kilometer, aber sein Gepäck ist schwer. Die Luft riecht nach Feuerwerk und Winter, Raketen steigen in den Himmel, leuchten für einen Augenblick die Nacht aus. Um zu Fuß an den See zu kommen, wird er über eine Stunde brauchen. Sein Weg führt vorbei am Spielplatz vor dem Haus, durch die Siedlung, in der sie seit einigen Jahren leben, in der die Nachbarn das neue Jahr feiern. Weiter durch den dunklen Park, durch das Industriegebiet, in dem in der Silvesternacht die Maschinen stillstehen. In der Ferne hört er Böller.

Der See liegt dunkel in der Nacht, elf Kilometer lang, an seiner tiefsten Stelle reicht er 31 Meter hinab, und wer ihn kennt, der weiß, dass hier Menschen verschwinden. Taucher, Badende, der See hat schon so manchen für immer verschluckt. Hoffentlich wird auch das Geheimnis des Mannes auf den Grund sinken und nie mehr auftauchen. Er steht auf dem alten Anleger, am Ufer recken sich kahle Bäume in die Nacht, verlassene Segelboote schaukeln auf den Wellen. Er ist angekommen.

Der Mann greift in die Tüte, zieht heraus, was er zu fassen bekommt, und schleudert es in den See. Die leeren Tüten wirft er ins Schilf, das Wasser wird die Spuren an ihnen schon wegwaschen. Durch die Dunkelheit geht er zurück. Er ist noch nicht fertig.

...

gemeinsam mit Julia Kopatzki, erschienen in stern Crime Nr. 21