Immer wieder sind wir in Guatemala Menschen begegnet, die nicht wählen wollen oder nicht glauben, dass ihre Stimme tatsächlich etwas Wert ist. Das mangelnde Vertrauen in die Politik ist tief verankert: Obwohl Guatemala seit fast drei Jahren eine Wahldemokratie hat, haben die gewählten Regierungen nur selten im Interesse der Bürger gehandelt. „Guatemala ist quasi ein zweigeteiltes Land: Es gibt die ländliche Bevölkerung, die auch heute noch in einem Land, das eigentlich nicht arm ist, unter massiver Armut leidet - unter mangelnder Bildung, mangelnder Gesundheitsversorgung und überhaupt mangelnder Partizipation", sagt Matthias Sonn, Deutscher Botschafter in Guatemala. Das gilt auch für das Wirtschaftsleben: 70 Prozent der Bevölkerung sind nicht Teil des formellen Sektors, zahlen keine Steuerung, haben keine Sozialversicherung und leben oft in schwerer Armut. Vor allem Indigene leiden unter der Situation.
Unter den beiden verbleibenden Kandidaten zum Präsidentschaftsamt wird sich daran nicht viel ändern: Der rechts-konservative Bewerber Jimmy Morales ist vor allem als Komiker bekannt und bewarb sich mit dem Spruch „Weder korrupt, noch ein Dieb". Für was er politisch steht, ist nicht klar. Fest steht nur: Hinter Morales stehen Ex-Militärs, die an den Verbrechen im Bürgerkrieg beteiligt waren. Seiner Beliebtheit schadet das jedoch kaum. Morales Gegnerin Sandra Torres positioniert sich sozialdemokratisch - als ehemalige First Lady wirkte sie bereits an Sozialreformen mit. Torres' Partei UNE gilt als weniger rassistisch, dafür anfälliger für Korruption. Weil ihnen nach Einschätzung von Beobachtern die nötige Größe fehlt, um das Land allein führen zu können, sei UNE zwangsläufig auch auf Koalitionen mit problematischeren Parteien angewiesen. Die Stichwahl am heutigen Sonntag bedeutet für die Bevölkerung daher vor allem eins: Die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es dennoch: Die guatemaltekischen Präsidentschafts-, Kongress- und Kommunalwahlen am 6. September 2015 fanden bereits unter außergewöhnlichen Vorzeichen statt. Nur vier Tage zuvor war Staatspräsident Otto Pérez nach den monatelangen Protesten in Folge der Aufdeckung von Korruptionsskandalen und wegen des Verdachts auf direkte Beteiligung am Korruptionsnetzwerk „La Línea" zurückgetreten. Der Korruptionsring „La Línea" ermöglichte es Firmen, gegen Schmiergeldzahlungen Waren am Zollamt vorbei ins Land einzuführen. Zwischen Mai 2014 und April 2015 flossen mindestens 3,7 Millionen US-Dollar an Bestechungsgeldern. Zwei Dutzend Verdächtige, unter ihnen Pérez und Baldetti, sitzen wegen des Falls in Untersuchungshaft. Der Kongress hatte der Aufhebung von Pérez' Immunität zugestimmt. Ein Erfolg, der vor allem auf die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und der UNO-Kommission gegen Straffreiheit ( CICIG) zurückzuführen ist.
Die Proteste rüttelten die Zivilbevölkerung Guatemalas auf. Vor allem junge Menschen seien verstärkt auf die Straßen gegangen, sagen Beobachter. Diese neue Politisierung könnte auch nachhaltig sein. Bewirkt haben die Proteste und der Rücktritt des ehemaligen Präsidenten in jedem Fall eine Stärkung des Rechtsstaats. Dass die guatemaltekischen Strafverfolgungsbehörden durch die CICIG so weit gestärkt werden konnten, dass Korruption bis in die politischen Spitzen verfolgt werden konnte, sei einmalig, sagt Botschafter Matthias Sonn. „Die Akteure dieses politischen Systems können sich nun nicht mehr wie in der Vergangenheit gewohnt darauf verlassen, dass sie mit korrupten Handlungen straflos davonkommen." Dieser Faktor, so Sonn, werde weiterwirken - unabhängig davon, wer die Wahl gewinne.