Ein Donnerstagmorgen auf der Strecke Köln-Stuttgart: An den Eingängen der ersten Waggons drängen sich die Passagiere, doch Leonie Müller geht unbeirrt weiter nach hinten, sie will zum Wagen mit der Nummer 22. Während sich die Passagiere in anderen Waggons nebeneinander quetschen, ist hier das ganze Abteil nahezu leer.
"Airrail-Wagen", erklärt Müller. "Der ist extra für Leute reserviert, die zum Flughafen wollen. Aber so viele sind das meistens gar nicht." Die 23-Jährige verstaut ihren Rucksack im Gepäckfach und lässt sich auf einen Doppelplatz fallen. Leonie Müller ist zwar nicht auf dem Weg zum Flughafen, aber ein paar kleine Annehmlichkeiten müssen eben sein, wenn man jede Woche viele Stunden auf den Schienen verbringt.
Im Frühjahr hat sie ihre Wohnung in Stuttgart gegen eine Bahncard 100 getauscht - seither sind Züge nicht nur Fortbewegungsmittel, sondern auch Wohnzimmer und Arbeitsraum der Studentin. Pro Woche fährt sie zwischen 1200 und 2000 Kilometer. Dabei pendelt Müller vor allem zwischen Tübingen - ihrem Studienort -, Köln - dort wohnt ihr Freund -, Bielefeld - ihrer Heimat und Wohnort ihrer Oma - und Berlin, wo ihre Mutter lebt. Meist entscheidet sie spontan, wann sie wohin fährt.
Im April 2016 will Müller mit ihrem Studium fertig sein und bis dahin möchte sie wohnungslos bleiben. Die meisten Nächte verbringt sie allerdings bei ihrem Freund oder einer Freundin in Tübingen. Lieber als im Zug zu übernachten, fährt sie spätabends an einen Ort und morgens früh gleich wieder los.
Was für viele unvorstellbar wäre, ist für die Tübinger Studentin ein Experiment: Was macht die Wohnungslosigkeit auf Zeit mit mir? Über die Erfahrung schreibt sie in ihrem Blog, den sie auch als Werkstück für ihre Bachelorarbeit in Medienwissenschaften einreichen will.
Auf der Fahrt von Köln nach Tübingen stellt Leonie Müller Kekse und Traubensaft auf das ausgeklappte Tischchen vor ihr. Sie vermeidet es, unterwegs belegte Brötchen zu kaufen: zu teuer. Lieber kauft sie sich im Supermarkt Frischkäse und Brot.
Auf den Gedanken, ihre Wohnung aufzugeben, brachte sie ihr neuer Freund. Der lebt in Köln und beobachtete, wie Leonie zwischen ihm, ihrem Wohnort Stuttgart und ihrem Studienort Tübingen pendelte. "Wie oft bist du eigentlich effektiv zu Hause?", fragte er sie. 340 Euro kostet die Bahncard im Monat, für ihre Wohnung hatte Müller 400 Euro Miete gezahlt. Leonie Müllers Kisten stehen jetzt bei ihrer Mutter.
Was sie seither braucht, passt in ihren Reiserucksack: Wechselklamotten, Uni-Sachen, ein Tablet und die Hygiene-Grundausstattung. Und ihre dunkelblaue Daunenjacke, die man übrigens ganz klein zusammenfalten kann, dient unterwegs auch mal als Decke. Überhaupt besteht Müllers Garderobe fast nur noch aus dunkelblauer Kleidung, die lässt sich einfach kombinieren.
Erfahrung im pragmatischen Packen hat Leonie Müller bereits von einer neunmonatigen Weltreise. Die wichtigste Neuanschaffung für ihr Jahr in der Bahn: Gute Kopfhörer, die alle Umgebungsgeräusche ausblenden. Damit kann sie problemlos im Zug arbeiten, so manche Hausarbeit ist hier schon entstanden.
Als sie ihre Pläne auf Facebook verkündete, erhielt Leonie Müller viel Zuspruch. "Viele Freunde haben geschrieben, ich könne jederzeit vorbeikommen." Doch ihr ist wichtig, anderen nicht zur Last zu fallen: "Mit einer Freundin in Tübingen, bei der ich oft übernachte, habe ich vereinbart, dass sie mir ehrlich sagt, wenn sie ihr Zimmer mal nicht teilen will."
Andere, denen Müller von ihrer Entscheidung erzählt, reagieren aber auch verständnislos. "Manche Leute fühlen sich regelrecht angegriffen. Als würde ich deren Lebenskonzept infrage stellen." Erst neulich meinte jemand zu ihr, man müsse doch seinen eigenen Raum haben - und ob sie sich einfach durchschnorren würde.
Signalstörungen? Kein Problem!
Es sei komisch, findet Müller, wie akzeptiert Wohnungslosigkeit sei, wenn man im Ausland unterwegs sei. "Im Inland wird das gar nicht als Reise wahrgenommen." So sieht sie sich: als Reisende, nicht als Extrempendlerin. Sie fühlt sich unabhängig. Frei. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass ihr nichts fehlt und sie nichts nervt, nicht einmal Signalstörungen, verpasste Anschlusszüge oder das viele Sitzen.
"Ich habe viel Freiheit, die aber auch Entscheidungen mit sich bringt", sagt sie; "Ich muss mich ständig fragen: Was will ich, was muss ich?" Für die Semesterferien hat sich Leonie Müller mal andere Strecken vorgenommen - dann will sie die vier äußersten Ecken Deutschlands besuchen. Mit der Bahn natürlich.
Die Durchsagen, die dunkelblauen Sitze mit den hellblauen Kissen, die helle Decke, das Muster des unauffälligen ICE-Teppichs und das Geräusch der schließenden Zugtüren seien ihr inzwischen so vertraut, dass sie heimelige Gefühle entwickle - ähnlich wie beim Geräusch der Haustür, der Position der Lichtschalter und dem Wasserkocher mit dem Wackelkontakt in ihrer alten Wohnung. Auch Haare waschen ginge ganz gut im Zug: "Die Zeit zwischen Mannheim und Stuttgart reicht dafür perfekt."