Fabienne Kinzelmann

Redaktorin Internationale Wirtschaft, Zürich

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Die Wettreisenden

Moderne Backpacker liefern sich einen Travel-Contest: Es gewinnt, wer die meisten Länder besucht, die unwirtlichsten Dörfer entdeckt, die ekligsten Sachen isst. Wer nicht aufpasst, riskiert einen Reise-Burn-out.


Saigon, im Januar 2013.

Leonie Müller hatte sich in einem Hotel direkt am Fluss einquartiert, als sie plötzlich müde und traurig wurde. Vietnams größte Stadt lockte mit exotischen Gebäuden, Märkten, Gerüchen. Doch Leonie hatte keine Lust auf Sightseeing, sie wollte sich nicht ins Gewusel der engen Gassen stürzen, in keiner Garküche essen, keine Fahrt mit einer Rikscha unternehmen. Sie fühlte sich kraftlos, einsam und hatte "irgendwie keinen Plan mehr", wie es weitergehen sollte.

Dabei war sie an das Fremde und Exotische längst gewöhnt. Die 22-Jährige, die mittlerweile Geschichte in Tübingen studiert, war vor wenigen Tagen aus Shanghai in China gekommen, davor hatte sie unter anderem in Malaysia, Australien, Fidschi und den USA Station gemacht. Die halbe Welt im Schnelldurchlauf, vier Monate, acht Länder, unzählige Städte, Dörfer, Menschen. Jeden Tag neue Eindrücke, Herausforderungen, Regeln und schweißtreibende Fahrten in völlig überfüllten Zügen und Bussen, die chronisch zu spät kamen.

Theoretisch hatte sie für fünf weitere Monate geplant, auch am Geld mangelte es nicht, weil ihre Mutter den Trip als Teil der Bildung betrachtete und ihn nahezu komplett finanzierte. Praktisch hatte die Backpackerin aber gerade keine Lust mehr aufs Reisen, und das lag nicht nur an der Hitze, die in Saigon herrschte.

Zehntausende deutsche Abiturienten und Studenten machen es jedes Jahr genauso wie Leonie: Sie packen ihren Rucksack und besteigen ein Flugzeug, um sich auf eine lange Reise zu begeben. Dabei geht es vielen aber nicht nur um Muße und neue Erfahrungen, sondern auch um Egobuilding: Sie reisen nicht nur um die Welt, sondern auch um die Wette. Es gewinnt, wer die meisten Länder besucht, die abgeschiedensten Bauerndörfer entdeckt, die krassesten Erfahrungen macht. Selbst der "Lonely Planet", noch vor wenigen Jahren die Bibel aller Backpacker, gilt bei vielen als out. Die echten Geheimtipps werden unterwegs entdeckt.

Viele Reisende gleichen eher Rasenden, die in den Hostels Angebergeschichten erzählen oder die Stempel in ihren Pässen vergleichen - und dann ganz traurig sind, wenn mal einer mehr hat. Eine Erfahrung, die auch Leonie einige Male in den Gästehäusern machte, die sie während ihres Trips ansteuerte. So setzen sich Tausende Backpacker aus der ersten Welt einem erheblichen Erfolgs- und Leistungsdruck aus. Wer nicht aufpasst, bekommt wegen der vielen neuen Eindrücke und dem hohen Tempo einen Reise-Burn-out; Leonie erwischte es in Saigon.

"Wir leben in einem Zeitalter, in dem Quantität Trumpf ist - das gilt auch fürs Reisen", sagt Peter Vollbrecht, ein Philosoph, der einige Jahre an einer Uni in Indien arbeitete, bevor er sich als Dozent und Reiseleiter selbstständig machte. Das moderne Reisen, sagt er, sei oft so ähnlich wie das Zappen durch Fernsehkanäle - man sehe immer nur ein bisschen, viel hängen bleibe dabei nicht. Wie passend, dass es dafür den perfekten Begleiter gibt, einen Spiegel, der nur die schönen, wilden, abenteuerlichen, mutigen und verwegenen Momente zeigt - und zwar allen und ständig, ob sie das wollen oder nicht: Facebook.

"Schaut, HIER bin ich! Das erlebe ICH gerade! Viel spannender als bei euch, stimmt's?", scheint einem zur Hauptreisezeit der ganze Newsfeed entgegenzuschreien. Der Kommilitone bei einem Kamelritt durch eine algerische Wüste, die Freundin mit dunkelhäutigen und bitterarmen Kindern auf dem Schoß in einem Dorf in Mali. Da! - der ehemalige Klassenkamerad mit Machete im Urwald von Borneo und die Bewohner der WG von nebenan in einem Holzhaus irgendwo an der Küste von Papua-Neuguinea.

Es ist klar, dass vieles, was gezeigt wird, anstrengend, unbequem und auch krankheitsfördernd ist, besonders dann, wenn Essen aus Restaurants mit unbekannten Hygienevorschriften im Spiel ist. Unterbewusst setzen uns solche Fotos aber unter enormen Druck: Bei einer Studie der Technischen Universität Darmstadt und der Humboldt-Universität Berlin gab ein Drittel der rund 600 Teilnehmer an, dass Facebook bei ihnen häufig negative Gefühle wie Frust, Unzufriedenheit und Neid hervorrufe.

Auch Tim, der seinen echten Namen nicht nennen möchte, fragt sich oft, ob er etwas falsch macht, wenn er von den Reiseerlebnissen seiner "Freunde" liest. In manchen Runden erzählt der Philosophiedoktorand lieber nicht, dass er noch auf keinem anderen Kontinent als in Europa war, zuletzt reiste er mit seiner Freundin eine Woche nach Italien. "Selbst wenn man weiß, dass die meisten Egotaktiker sind und das eher für den Lebenslauf machen, kann man sich gegen den eigenen Neid nicht komplett wehren", sagt er.

Ein Trost für alle Daheimgebliebenen: Wer soziale Netzwerke von unterwegs als ständigen Anker nach Hause benutze, mache es sich schwerer, vor Ort anzukommen, sagt Vollbrecht. Dabei könnten Facebook und andere soziale Netzwerke durchaus das Reisen erleichtern - wenn sie dafür genutzt werden, um in der Ferne Anschluss zu finden und sich Tipps zu holen. Genauso wie ein Leben als Backpacker ein Urlaub von den Zwängen des Alltags sein kann, eine Möglichkeit, sich frei zu machen von dem, was andere denken. Dass Reisen unter vielen Studenten trotzdem zu einem Wettbewerb wurde, erklärt sich Vollbrecht mit dem Drang nach Selbstbehauptung: "Wir haben es schwer, individuell zu sein - gleichzeitig ist der Wunsch danach aber sehr stark."

Der Reiseleiter rät dazu, während eines monatelangen Trips auch mal länger an einem Ort zu bleiben, dort vielleicht die Tageszeitung zu lesen und sich mit der politischen und gesellschaftlichen Situation des Landes zu befassen. Die beste Zeit dafür sei zwischen zwei Ausbildungsabschnitten, also zum Beispiel zwischen Abi und Studium oder Bachelor und Master. "Da steckt man nicht in einem Anforderungsprofil und hat Ruhe für die Suche nach sich selbst."

Maria Herwig, 25, legte vor ihrem Master an der Uni Dresden eine Auszeit ein. Ein "All-inclusive-Urlaub" ist für sie undenkbar; Kommilitonen, die eine Woche Kluburlaub in Ägypten machen und anschließend behaupten, eine spannende Reise nach Afrika unternommen zu haben, könne sie nicht ernst nehmen. "Ich möchte eigentlich gern die Erste an einem Ort sein, etwas richtig entdecken", sagt Maria.

Dieser Wunsch führte sie im vergangenen Jahr unter anderem nach Myanmar, nur wenige Monate nach dem Ende der Militärdiktatur. Ein Jahr vorher hatte sie einige Wochen in Thailand verbracht, dort sei es aber "total überlaufen" gewesen: "Da waren Berge von Touris, die auf ein individuelles Erlebnis hofften, und wir wurden in die Busse und Fähren regelrecht verfrachtet." In Myanmar, touristisch noch nicht komplett erschlossen, konnte sich Maria ihre Routen selbst erarbeiten.

Während ihrer Weltreise merkte sie jedoch, dass zu viele Eindrücke sie auch überfordern. So wie in Marokko. Dort führte sie ein Couchsurfing-Gastgeber bei fast 50 Grad durch eine Steinwüste in das Bergdorf seiner Eltern. Fließend Wasser gab es nicht, nur Brunnen. Maria wohnte bei alten Frauen, mit denen sie sich kaum verständigen konnte.

Mehrere Tage verbrachte sie in dem kleinen Dorf und wurde einmal von einigen Bewohnern gedrängt, vor aller Augen ein viel zu großes, traditionelles Hochzeitskleid anzuprobieren; die Männer des Dorfes saßen auf dem Boden, tranken Tee und lachten sich schlapp über den seltsamen Anblick, den sie abgab. Weil sie trotzdem ein kleiner Star im Dorf war, wurden ihr zu Ehren Hühner geschlachtet. "Das war alles spannend, aber eben auch anstrengend", erinnert sich Maria.

Um nicht übermäßig in Stress zu geraten, koppelte sie sich zumindest von den Möglichkeiten der digitalen Welt ab und entschied sich sogar dafür, analog zu fotografieren. Das hat den Vorteil, dass man nicht ganz so oft die Kamera zückt und dadurch den Urlaub zum größten Teil nur auf dem Display oder durch den Sucher erlebt.

Auch Leonie, die in Saigon plötzlich so müde wurde, musste sich Strategien gegen den Stress zulegen. In ihren ersten Tagen in China regte sich die Geschichtsstudentin ständig über die aufdringlichen Männer auf. Dann verstand sie die Kultur und arrangierte sich mit einem Trick: Sie steckte sich einen falschen Ehering an und behauptete vor Fremden, mit ihrem Mann zu reisen. Als sie in Vietnam ihr Tief hatte, tat sie etwas anderes Schlaues, um sich zu schützen: Sie machte Urlaub. Sie flog nach Thailand, reiste an die Küste und legte sich zwei Wochen an den Strand, inmitten von Pauschaltouristen.

Leonie auf ihrer Weltreise: jeden Tag neue Eindrücke, ungewohnte Herausforderungen

Die Erde im Schnelldurchlauf: Die Geschichtsstudentin Leonie Müller zog von einem Land zum nächsten, bis sie völlig erschöpft in Vietnam strandete.