Fabienne Kinzelmann

Redaktorin Internationale Wirtschaft, Zürich

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Artikel

"Ich will kein Mitleid"

Innerhalb weniger Wochen verlor die Schülerin Linda, 18, drei Menschen - ihren Vater, ihren Bruder und einen guten Freund. Mal ist sie hilflos, mal wütend, mal unendlich traurig. Hier erzählt sie, wie sie nach einem Weg sucht, mit dem Tod zu leben. Ihr größter Wunsch: Ich möchte wieder fröhlich sein!


"Manchmal reicht ein Wort, um Erinnerungen hervorzurufen. Dann kann ich es nicht aufhalten und fange an zu weinen. Manche fragen dann: 'Liebeskummer oder was?' Es gibt immer jemanden, der den Arm um mich legt und sagt: 'Egal, was los ist, so schlimm kann es ja nicht sein.' Ich schreie dann innerlich: 'Doch, das ist es! Der Tod ist schlimm und nicht rückgängig zu machen!' Äußerlich bleibe ich stumm.

Vor knapp zwei Jahren drehte mein kleiner Bruder plötzlich durch. Er fing an zu zündeln, wollte alles anbrennen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich meinen Vertrag für ein Highschool-Jahr unterschrieben und bereitete mich auf meine Abschlussprüfung an der Realschule vor. Wir dachten, er sei eifersüchtig auf mich und wolle Aufmerksamkeit. Dann stach Thomas mit einem Messer auf meinen Küchenstuhl ein, wieder und wieder. In dem Moment hatte ich Angst vor ihm. Er konnte nicht sagen, warum er das gemacht hat.

Im Sommer die Diagnose: Der Vater hat Lungenkrebs

Wir rannten von Arzt zu Arzt. Vielleicht eine psychische Störung? Dann entdeckten Ärzte in der Uniklinik den Hirntumor, weit fortgeschritten und bösartig. Eine Woche später hatte Thomas die erste OP. Die Ärzte machten uns Hoffnung, ansonsten hätte ich die Zeit wohl nicht durchgestanden.

Ich besuchte ihn jeden Tag, nachts lernte ich für die Schule. In der Zeit lernte ich Max kennen, er hatte auch Krebs und lag mit meinem Bruder auf einem Zimmer. Thomas war 14 und Max 16, genauso alt wie ich.

Im Sommer ging es meinem Bruder besser, und ich flog nach Florida. Kurz darauf bekam mein Vater seine Diagnose: Er hatte Lungenkrebs. Meine Eltern und mein großer Bruder versuchten, mich damit so wenig wie möglich zu belasten. Wir skypten fast täglich eine Stunde; aus der Ferne ist es leicht, jemanden glauben zu lassen, dass alles gar nicht so schlimm ist. Trotzdem fragte ich mich oft: Soll ich abbrechen?

Im Dezember konnte Thomas nicht mehr reden

Anfang Dezember hatte Thomas nur noch einen Wunsch: Ich sollte nach Hause kommen. Die erste Begegnung war ein Schock. Er hat sich unheimlich gefreut, mich zu sehen, aber ich habe es nur fünf Minuten bei ihm ausgehalten. Er wollte reden, konnte aber nur brummeln und blinzeln. Mit meinem Papa konnte ich mich unterhalten, aber er hatte keine Haare mehr. Es fühlte sich an, als ob ein fremder Mensch neben mir sitzt.

Inzwischen war der Kontakt zu vielen Freunden abgebrochen, zum einen weil ich sie nicht belasten wollte, aber auch durch meinen Auslandsaufenthalt. Ich habe in der Zeit daher öfter mit Max geschrieben, dem Zimmernachbarn meines Bruders. Natürlich spielte es eine Rolle, dass er auch Krebs hatte. Über seine Krankheit hat er jedoch wenig erzählt, er wollte lieber viel über mich wissen. Meine ganzen Freunde konnten sich nicht mal ansatzweise vorstellen, wie schlimm die Situation wirklich war und wie es mir ging. Max wusste von meinen Bedenken und Sorgen und hat sie sogar geteilt. Er konnte nachvollziehen, was in mir vorgeht und hat mir oft gut zugeredet.

An Silvester aß mein Bruder zum letzten Mal, eine Woche später trank er nichts mehr. Am 13. Januar wollte ich mit meiner besten Freundin auf eine Party. "Ich kaufe mir noch ein neues Outfit, das zeige ich dir später", sagte ich Thomas und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

Als ich nach dem Shoppen ins Wohnzimmer kam, hielten meine Eltern seine Hände, er war ganz blass. 'Wie geht es Thomas?', fragte ich, weil ich es nicht wahrhaben wollte. Aber es war schon vorbei.

Wütende Fragen: Wieso mein Vater? Wieso mein Bruder?

Etwa zwei Wochen später kam mein Vater für eine Magenspiegelung ins Krankenhaus, weil er nicht mehr trank und halluzinierte. Er überlebte sie nicht. Die nächsten Tage erlebte ich wie unter einem Schleier. Dann der ganze Trubel: Beerdigung organisieren, Versicherungen anrufen.

'Gott hätte sie doch in einer Sekunde heilen können', dachte ich manchmal und war wütend. Noch kurz vor dem Tod meines Bruders betete ich für seine Heilung. Wieso mein Vater? Wieso mein Bruder? Trotzdem hat mir der Glaube auch unwahrscheinliche Kraft gegeben. Ich glaube nicht, dass der Tod das Ende, sondern der Anfang ist.

Meine Mama hat aufgehört als Krankenschwester zu arbeiten, als mein Bruder krank wurde. Die Leute im Dorf und aus der Gemeinde waren richtig toll: Sie haben einen Gedenklauf mit Spenden für meine Familie veranstaltet, sie brachten nach dem Tod Kuchen und Essen oder kamen zum Putzen vorbei.

Freunde versuchen ganz unterschiedlich zu helfen

Mitte Februar flog ich mit meiner Mama und meinem anderen Bruder zurück nach Florida. Das hat zum Glück auch der Verein Herzenswünsche bezahlt, durch den ich schon vorher auf Wunsch meines Bruders nach Hause kommen konnte. Wir haben uns abgelenkt und viel unternommen. Sie blieben nur zwei Wochen in Amerika, aber wir haben alle diese Distanz und das Zusammensein gebraucht. Auch jetzt reden wir kaum über die beiden. Ich glaube, wir sind alle froh, wenn wir mal nicht daran denken müssen. Wir wollen uns nicht unnötig damit konfrontieren. Deswegen mag ich es auch nicht, wenn andere über meinen Vater oder meinen Bruder reden.

Später schrieb ich Max vom Tod meines Bruder und meines Vaters. Ich wusste nicht, dass das die letzte Unterhaltung mit ihm sein würde. Kurz vor Ostern entdeckte ich auf seiner Pinnwand bei Facebook lauter traurige Nachrichten. Max war tot. Ich fühlte mich unglaublich hilflos.

In der Zeit war Amerika meine Zuflucht, gleichzeitig wurde mein Heimweh immer stärker. Im Juni war ich zurück bei meiner Familie, die jetzt nur noch so klein ist. Ich habe mir einen Nebenjob gesucht, wir haben uns eine Babykatze gekauft, um ein bisschen mehr Leben in der Wohnung zu haben. Bald werde ich ein Hospiz hier in der Nähe unterstützen und eine Trauergruppe für junge Erwachsene besuchen.

Meine Freunde versuchen auf unterschiedliche Art, mir zu helfen und mit mir umzugehen. Es gibt keine Musterlösung. Es gibt auch nichts, was man sagen sollte, etwas, das auf jeden Fall hilft.

Das ist aber auch okay - Hauptsache, es wird überhaupt was gesagt. Wer Hinterbliebene mit Samthandschuhen anfasst oder gar versucht, sie zu meiden, der macht alles nur viel schlimmer. Am meisten hat es mir geholfen, wenn mich meine Freunde ganz normal behandelt, und wir gemeinsam was unternommen haben.

Deswegen bin ich auch froh, auf einer neuen Schule mein Abitur zu machen. Hier wissen nicht alle, was passiert ist. Ich will kein Mitleid, ich möchte wieder fröhlich sein. Ich hoffe, dass Thomas und Papa von oben auf mich runtergucken und stolz sind. Der Gedanke hilft mir. Und abends, bevor ich ins Bett gehe, schnappe ich mir oft ein Hemd von meinem Bruder oder meinem Vater und schlafe darin. Dann muss ich immer lächeln."


Aufgezeichnet von Fabienne Kinzelmann



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