Fabienne Kinzelmann

Redaktorin Internationale Wirtschaft, Zürich

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Artikel

Kunst kommt von Körper

Ein Künstler will nach oben: Der Student Mischa Badasyan, 25, zieht sich aus, tanzt stundenlang und bereist mit einem Tablet vor seinem Gemächt europäische Hauptstädte. Er schockiert und verwirrt - dabei möchte er vor allem verstanden werden.


Für sein erstes Projekt hat er sich ausgezogen. Mischa Badasyan, 25, stand nackt auf einem Kulturfestival in Tschechien, neben ihm lag ein elektrischer Rasierer. Mischa ist ein untersetzter Typ mit markantem Gesicht, schütterem Haar, wachem Verstand - und viel, viel Körperbehaarung. Ist das schön? Und was heißt Schönheit überhaupt? Über diese Fragen sollten die Besucher nachdenken - ohne dass Mischa sie aussprach. Er sprach nicht während der Performance.

Irgendwann habe eine Frau den ersten Schritt gemacht, erinnert sich Mischa. Sie habe ihm schüchtern ein Herz auf die Brust rasiert. Nach und nach trauten sich mehr Besucher. Am Ende des Tages war Mischas Körper wild rasiert - nur an den Schambereich wagte sich niemand.

Mischa Badasyan lebt in Berlin und studiert eigentlich Kultur und Geschichte Osteuropas in Frankfurt an der Oder. Doch so oft es die Uni zulässt, zieht er los für seine Performance - begleitet von befreundeten Kameraleuten und Fotografen, Freiwillige verteilen Flyer für ihn. Mindestens acht Stunden dauert eine Aktion. Er findet: Wenn man acht Stunden arbeiten kann, kann man genauso lang Kunst machen.

Ist das Kunst oder kann das weg?

Es ist wie so oft: Viele halten ihn und seine Aktionen für verrückt, manche für abstoßend. Manchen Künstlern gelingt irgendwann der Durchbruch, andere verschwinden wieder.

Mischa arbeitet noch an seinem Weg nach oben. Er bekommt immer mal wieder Absagen von Kunstfestivals, und Behörden verweigern ihm oft die Genehmigung, die er für eine Performance an öffentlichen Orten braucht. Das frustriere ihn, sagt Mischa. Und er macht trotzdem weiter und reist auf eigene Kosten. Er hofft, dass sich das irgendwann ändert. Er macht weiter, weil seine eigene Geschichte ihn antreibt.

Mischa kam 1988 in Russland als Sohn eines in Georgien geborenen Armeniers und einer Armenierin zur Welt. Er habe sich früh für Menschenrechte engagiert, erzählt er, für Umweltschutz und die Rechte von Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuellen. Dass er selbst homosexuell ist, habe er vor seiner extrem konservativen Familie verheimlicht.

Er studierte Politikwissenschaft in Russland und kam 2008 für einen Freiwilligendienst nach Deutschland. Mischa lernte schnell Deutsch und begann in Dresden Soziale Arbeit zu studieren.

Auf der Suche nach seiner Identität

Trotzdem habe er sich nicht richtig zu Hause gefühlt, sagt er. Nicht in Deutschland, nicht in Russland, nicht in Armenien. Ein Problem, das er mit vielen Migrantenkindern teilt. Es ist auch der Konflikt, den Mischa in seiner Performance-Kunst transportieren will.

Er befasst sich mit Identität, liest viel dazu. Kunst, findet Mischa, entstehe vor allem durch Lebenserfahrung. Und er möchte seine durch sich selbst zeigen - nicht durch einen Gegenstand. Durch die Performance könne er sich selbst ausleben. "Kunst", sagt Mischa, "ist ein Prozess." Ein Prozess, mit dem sich Menschen auseinandersetzen sollen.

An einem Novemberabend stellt er in einem Dresdner Theater zwei Stühle auf. "Lachen" steht auf dem einen, "Weinen" auf dem anderen. Er sagt den Besuchern nichts dazu, genau wie damals in Tschechien. Je nachdem, auf welchen Stuhl sich jemand setzt, stellt er die Emotion dar. Das Lachen war einfach, das Weinen übte er drei Tage.

Wie würden die Leute reagieren? Würden sie mitmachen? Das reizt Mischa bei seinen Aktionen - nicht das Nackt sein, nicht, dass er sich verletzlich und angreifbar macht.

Eine Frau nimmt Platz. Sie schaut ihn an. Mischa beginnt, zu weinen, die Frau weint mit. Andere Besucher bleiben stehen, schauen den beiden minutenlang zu. Danach ist Mischa erschöpft. Die Frau und er, sie haben nicht über die Performance gesprochen. Nur gemeinsam geweint.

Nach und nach hat Mischa seine Performances ausgeweitet. Zum Jahrestag der Bücherverbrennung las er unter dem Dresdner Bismarckturm einmal eine ganze Nacht lang Lenins "Staat und Revolution" laut vor - wegen seiner Herkunft in zwei Sprachen. Anfangs hörten 30 Menschen zu, am frühen Morgen keiner mehr.

Mischa sagt, er wolle nicht das Künstler-Klischee leben. Er verzichte aus Überzeugung auf Alkohol, rauche nicht und nehme keine Drogen, in der queeren Szene, in der er sich bewegt, sei das nicht immer einfach. Während seines Auslandssemesters in Schottland tanzte er mal acht Stunden an der Glasgow Universität. Er wollte so zeigen, dass man auch ohne Drogen Spaß haben kann.

Derzeit reist er mit seinem "ADbuster"-Projekt durch jede europäische Hauptstadt, um die unterschiedlichen Reaktionen zu vergleichen. Um seine Hüfte schnallt er dabei ein Tablet mit einem weißen Bildschirm, der über seinen nackten Schenkeln baumelt und sein Gemächt verdeckt. "Deine Werbung" steht dann mit einem Pfeil nach unten in der jeweiligen Landessprache auf seinem T-Shirt. In diesem Aufzug fährt Mischa U-Bahn - in Berlin, in Paris, in Rom. Manche starren ihn verstohlen an, manche lachen und fotografieren ihn, andere gucken verschämt zur Seite. "Die Plakate vor deiner Nase sind genauso sexuell", sagt Mischa ruhig, wenn ihn jemand offen kritisiert.

Mischa hofft, den Menschen durch seine Performances Input zu geben - politischen und sozialen. Er will mit ihnen ins Gespräch kommen und neue Wege der Kommunikation zeigen. Vor allem aber möchte er eins: verstanden werden.



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