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Das vergessene Desaster

Fünf Jahre nach der gefeierten Unabhängigkeit ist der Südsudan ein weitgehend gescheiterter Staat. Die Entwicklungen im jüngsten Land der Welt sind alarmierend, stossen im Westen aber auf wenig Interesse. Welche Lehren ziehen wir aus der mühevollen Entstehung des neuesten Staats?

Der Jubel war gross in Juba, als 2011 knapp 99 Prozent der Bürgerinnen und Bürger des Südsudan für die Unabhängigkeit ihres Landes stimmten. Gleichermassen gross waren die Erwartungen, die mit der Entstehung des 54. Staats Afrikas einhergingen. Nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg sollten die Erdöleinnahmen endlich gerecht verteilt werden. Und die neue Regierung des mehrheitlich christlichen Staats sollte – nicht zuletzt dank üppiger Hilfsgelder – für Wohlstand, Stabilität und Sicherheit sorgen.

Nur fünf Jahre später ist diese Zuversicht gänzlich der Ernüchterung gewichen. Die kurze Geschichte des Südsudan ist eine Abfolge zerschlagener Hoffnungen, humanitärer Krisen, Menschenrechtsverbrechen, wirtschaftlicher Stagnation und einer scheinbar ausweglosen politischen Lage. «Die Situation ist seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2013 mit jedem Tag düsterer geworden», sagt Jonathan Veitch vom UNICEF. Zehntausende sind dem laufenden Konflikt zum Opfer gefallen, über zwei Millionen wurden vertrieben, ein Viertel der Bevölkerung ist auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.

Aus heutiger Sicht scheint die Geburt des Südsudan – und mit ihr eines des grössten Entwicklungsprojekte der Geschichte – gescheitert. Was ist schiefgelaufen? Und welche Lehren lassen sich aus dem Debakel ziehen?

Mehr Realismus. Die Euphorie ist kein verlässlicher Wegweiser. Dass der unabhängige Südsudan eine beschwerliche Reise antreten würde, war zu erwarten gewesen. 2011 konnten zwei Drittel der rund 8 Millionen Südsudanesen weder schreiben noch lesen, nur 10 Prozent der Bevölkerung hatte Zugang zu Strom, im gesamten Land gab es lediglich 100km geteerte Strassen. Ein Grossteil der jungen Bevölkerung des Landes war zudem im Krieg aufgewachsen, ethnische Spannungen gab es bereits vor der Unabhängigkeit. Dennoch liessen sich auch Skeptiker kurzzeitig von der Euphorie anstecken – und vergassen darob, wie wichtig es etwa wäre, den neuen Staat von Beginn weg in koordinierter Weise zu unterstützen.

Mehr Selbstkritik. Der Südsudan erhält pro Kopf mit am meisten Hilfsgelder in Afrika. Verhindern konnte diese Unterstützung die aktuelle Krise nicht. Dennoch bleiben selbstkritische Stimmen in Entwicklungsagenturen die Ausnahme. Das vielzitierte (aber nicht überprüfbare) Argument, ohne Hilfe wäre die Situation noch schlimmer, zeugt von einer pauschalen Abwehrhaltung, die Verbesserungen im Wege steht.

Zunehmend knappe Mittel. Unbestritten ist derweil, dass die Mittel zur Bewältigung der humanitären Krise im Südsudan knapp werden. Das benötigte Budget für die diesjährigen UN-Hilfsoperationen im Südsudan ist erst zu 9% gedeckt. Das hängt einerseits damit zusammen, dass die Hilfeleistung im infrastrukturschwachen Binnenland vergleichsweise teuer ist (in Somalia kosten Hilfslieferungen laut IKRK sieben Mal weniger). Andererseits klafft zwischen Bedarf und Angebot zunehmend eine Lücke: Der Aufwand für laufende humanitäre Hilfsoperationen beträgt 2016 weltweit 25 Milliarden Dollar – zwölf Mal mehr als vor fünfzehn Jahren. Hilfsorganisationen werden daher kaum darum herumkommen, auf neue Finanzierungsmöglichkeiten für ihre Aktivitäten zurückzugreifen.

Der Ressourcenfluch – mal wieder. Der Südsudan ist die am stärksten von Öl abhängige Wirtschaft der Welt. 98 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölgeschäft, Steuern zahlt praktisch niemand. Der tiefe Ölpreis ist ein Hauptgrund für die missliche Wirtschaftslage des Landes. Doch das «schwarze Gold» erklärt in Teilen auch den anhaltenden Konflikt. Wie so oft verstecken sich unter dem Deckmantel der ethnischen Auseinandersetzungen primär wirtschaftliche Interessen. Der Südsudan gehört damit zur langen Reihe von Staaten, für die das verheissungsvolle Öl zum wirtschaftlichen und politischen Gift wurde. Die Gegenmittel sind bekannt. Jene, die diese erfolgreich einsetzen, sind jedoch an einer Hand abzuzählen.

Menschenrechte – does anyone really care? Ein unlängst erschienener UNO-Bericht zur Menschenrechtslage im Südsudan zeichnet ein Bild des Grauens. Tausende Frauen und Mädchen sollen Massenvergewaltigungen ausgesetzt sein. Said Raad al-Hussein, der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, spricht von einem «massiven Einsatz von Vergewaltigung als Terror-Instrument und Kriegswaffe.» Zudem würden Oppositionelle «bei lebendigem Leibe verbrannt, in Containern erstickt, an Bäumen erhängt und in Stücke gehackt». Im Südsudan herrsche eine der furchtbarsten Menschenrechtslagen der Welt, erklärt der UN-Hochkommissar. Frühere Berichte der Afrikanischen Union und von Amnesty International bestätigen dies. Dennoch ist das Land in unseren Breitengraden zumindest in der medialen Berichterstattung praktisch komplett vom Radar verschwunden. Das zeigt: Unser vermeintlich «globales Dorf» hat ziemlich enge Grenzen.

Fehlender Wille. Die Greuel, die der Bericht aufführt, gehen vorab von der offiziellen südsudanesischen Armee aus und sind laut UNO wahrscheinlich als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen. An sich ist klar: Spätestens jetzt müsste die internationale Gemeinschaft ihre Schutzverantwortung wahrnehmen. Die vielkritisierte Blauhelm-Mission müsste gestärkt werden, die Afrikanische Union müsste den Druck erhöhen, der ICC müsste sich der Verbrechen annehmen. Dazu fehlt bislang aber schlicht der politische Wille. Wäre der Südsudan übrigens eine Ex-Kolonie Frankreichs, wäre die französische Armee wohl längst vor Ort.

Der Leadership-Faktor. Die Krise im Südsudan hat strukturelle Ursachen – aber nicht nur. Wären Präsident Kiir und der neuerlich als Vize eingesetzte Machar nicht bereit, für ihren eigenen Machterhalt über Leichen zu gehen, würde die Situation im Land womöglich anders aussehen. Das geht in der Bewertung solcher Konflikte oft vergessen. Gerade in Ländern mit schwacher Staatlichkeit hängt viel vom Kopf des Systems ab. Das ist ein Risikofaktor, kann aber, wie andere Länder (Senegal, Côte d’Ivoire) zeigen, auch eine Chance sein.

Die kommenden Entwicklungen im Südsudan dürften in vielerlei Hinsicht gleichsam ein Lackmustest für die Institutionen der internationalen Gemeinschaft darstellen. Die Herausforderungen, die es im jungen Land zu bewältigen gilt, sind enorm. Sie stellen die Entwicklungszusammenarbeit, die Diplomatie, die internationale Gerichtsbarkeit, das Konzept der Schutzverantwortung und nicht zuletzt die Arbeit der UNO vor eine harte Probe. Klar ist: Wenn der Südsudan endgültig scheitert, tun dies mit ihm auch die Ideen und Ideale, die hinter seiner Entstehung standen. Es wäre kein gutes Zeugnis für die Welt.