Ein queerer Wikinger? Der Look von Jonas Lorentzen löst ein Gefühl aus, das man im durchgespielten Subkultur-Game der Gegenwart nur noch selten erlebt: Überraschung. Im Booklet seines Debütalbums „Lustuz Laþu Wōþuz Alu“ sieht man den dänischen Musiker im fellbesetzten roten Gewand. Sinnlich fallen ihm die langen Haare ins Gesicht. Um seinen Hals prangen Perlenketten und eine goldene Brosche, die aussieht wie ein Museumsstück – das polierte Sonnenrad einer untergegangenen Kultur vielleicht oder ein kreisrunder Sternenkalender, um die Rätsel der Plejaden zu entschlüsseln.
Mit gekreuzten Beinen steht er da, der 35-Jährige, inmitten einer eiszeitlichen Wüste. Der Blick fordert die Kamera heraus. Mann oder Frau? Trotz des dichten Vollbarts fällt das Machismo, das sich mit dem Bild des Nordmannes verbindet, elegant in sich zusammen.
Er habe sich bei seinem Outfit von Odin höchstpersönlich inspirieren lassen, sagt Lorentzen. „In alten Sagen taucht der Göttervater immer wieder in Frauenkleidern auf. Auch gibt es in der nordischen Mythologie die Idee, dass ein Mann nur dann Magie praktizieren kann, wenn er sich zwischen den Welten bewegt, zwischen männlich und weiblich. Er muss sich dem Androgynen annähern, um sein volles Potenzial zu entfalten.“
Lorentzen möchte sein magisches Potenzial in der Musik entfalten. Sein Projekt trägt den Namen Nebala – „das urgemanische Wort für die Leere“, wie es in den Linernotes zum Album heißt. Es ist eine Leere, die der buddhistischen Idee der Formlosigkeit ähnlich sei, in der alles Leben enthalten ist, sich manifestiert und wieder verschwindet – ein ewiger Tanz von Werden und Vergehen.
„Lustuz Laþu Wōþuz Alu“ sei so auch ein Album über die spirituelle Seite sexueller Vereinigung, sagt Lorentzen – inspiriert von der dahin gehend nicht immer gewaltfreien Sagenwelt des Nordens. Die neun Lieder durchmessen die verschiedenen Stadien der Anziehung, von der romantischen Idealisierung über eine nicht näher definierte „dunkle Seite der Sexualität“ bis hin zur „Ekstase, der wahren Verschmelzung der Liebenden, die alle Objektivität auflöst und kosmische schöpferische Kraft entfacht.“
Auch weil die Riten und Lieder der vorchristlichen Kulturen Skandinaviens einschließlich der Wikinger historisch schlecht belegt sind, hat Lorentzen eine neue nordische Weltmusik konstruiert. Es bimmeln Tempelglocken aus Ostasien, überschlagen sich Trommelrhythmen aus dem indischen Kerala, brummt Obertongesang, wie man ihn aus der Mongolei kennt. Als Händler und Plünderer sind die Wikinger schließlich auch weit in der Welt herumgekommen.
Wie „Vikings“ oder „Game of Thrones“
Für die nordische Grundierung sorgen archaisch anmutende Instrumente wie das Organistrum und die Talharpa, gespielt von Kjell Braaten, einem Experten für die Vertonung skaldischer Dichtung. Zusammen ergibt sich eine Art eddische Exotica, zu der sich imaginäre Folgen von Serien wie „Vikings“ oder „Game Of Thrones“ vor dem inneren Auge entwickeln, in denen sich ein Held aus dem Norden plötzlich in erotisch aufgeladenen Tänzen aus Tausendundeiner Nacht wiederfindet.
Vorwürfen der kulturellen Aneignung begegnet Lorentzen dabei offensiv: „Ich lasse mich nicht abhalten von dem, was ich mache und machen will“, entgegnet er. Kulturen seien per Definition von Aneignung geprägt. „Sie sind ein lebendiges Etwas, immer im Flow. Ohne fremde Einflüsse, die neue Abzweigungen und Wege öffnen, können sie nicht überleben.“ Alles andere sei bloße Geschichte, sagt er, „mit einem Grabstein obendrauf.“
Seine Liedtexte hat Lorentzen teilweise der Dichtung der Hávamál entlehnt: Odins Weisheiten für ein erfolgreiches Leben in Versform – eine Art Tao Te King für Wikinger. Über den genauen Inhalt schweigt er sich aus. Wie der Bandname sind sie in Urgermanisch verfasst, einer nicht mehr gesprochenen Sprache, die die sakrale Qualität der Stücke erhöhen soll. „Die Katholiken verwenden in ihren Ritualen Latein, im Hinduismus ist es Sanskrit. Diese Sprachen sind zwar sogenannte tote Sprachen, aber sie können gerade deshalb eine spirituelle Bedeutungsebene vermitteln.“
Um das ganze authentisch auszuarbeiten, hat sich der Musiker den Religionsforscher Mathias Nordvig von der Universität Boulder und die indischstämmige Philosophin Naina Eira Gupta von der Universität Exeter an die Seite geholt. Wider Erwarten fristet Lorentzen mit seiner konzeptuellen archäologischen Performance-Kunst kein Nischendasein. Das Genre, dem Nebalas Musik sich zurechnet, trägt den Namen Nordic Ritual Folk.
Die bekanntesten Bands heißen Wardruna und Heilung. Bei Letzteren, einem skandinavisch deutschen Kollektiv, war Lorentzen zwei Jahre Backgroundsänger. Mit ihren spektakulären Konzerten wollen sie die schamanischen Rituale der Wikinger- und Eisenzeit wiederauferstehen lassen. Bis zu 20 „Krieger“ tummeln sich bei Heilung auf der Bühne. Sie tragen Geweihe auf dem Kopf, stoßen Speere in die Luft und dreschen auf mannshohe Trommeln ein. Zu diesen „Ritualen“ kommen im Schnitt zwischen 2000 und 5000 Menschen. 2022 kletterten sie mit ihrem Album „Drif“ sogar für kurze Zeit in die Top Ten der deutschen Charts.
Die Popularität des nordischen Ritual Folk ist kein Zufall, sondern eng mit dem identitätspolitischen Zeitgeist verzahnt: Während viele Minderheiten ihre präkolonialen Identitäten reklamieren, bietet er weißen Westlern die Möglichkeit, ebenfalls stolz auf uralte Traditionen zu verweisen. Auch Europa sei „kolonisiert“ worden, so das Narrativ vieler Neuheiden, und zwar vom Christentum. Die Weisheit der Ahnen, die vor mehr als 1000 Jahren mit ihnen unterdrückt und ausgerottet wurde, wollen sie mit ekstatischen Trommeltänzen wiederbeleben.
Auch wenn sich Lorentzen mit seinen nordischen Vorvätern eng verbunden fühlt, kommen ihm solche Überlegungen ausgedachter europäischer Aborigines zu vereinfacht vor. Für den Dänen sind geschichtliche Überlieferungen und Dichtungen wie die Edda nur Tore in eine Zeit vor der Zeit, in der alle Menschen dem Animismus anhingen, der „ersten Weltreligion“, in der jeder Baum und jeder Pilz beseelt und göttlich war. „Viele weiße Menschen fühlen sich wurzellos. Und ein Baum ohne Wurzeln wird fallen, hat Einar Selvik von der Nordic-Folk-Band Wardruna gesagt“, sagt Lorentzen. „Aber ich will weiter gehen, für mich ist das Wikinger-Ding nur ein Tor, das mich jenseits dieser Konzepte führt. Ich will nicht zu den Baumwurzeln, ich will zu den Myzelium-Netzwerken darunter, die alles miteinander verbinden.“
Seine Theorien hat Lorentzen unter anderem beim im Jahr 2000 verstorbenen Psychedelia-Papst Terence McKenna geborgt. In einem Essayband aus dem Jahr 1992 beschrieb dieser ein überfälliges „Revival des Archaischen“. Wenn eine Kultur in eine Sackgasse gerät, gehe sie instinktiv ihre eigene Vergangenheit durch, um spirituelle Antworten zu finden, heißt es da. „So war das in Rom mit den Griechen, die fast zu Göttern erklärt wurden, und dann in der Renaissance nach dem Mittelalter, aber auch bei den Romantikern, die auch schon auf die Wikingerzeit zurückblickten“, erklärt Lorentzen.
Je größer die Krise, desto weiter müssten wir zurück in der Zeit. Das ultimative Ziel: Die Wiederkehr eines goldenen Zeitalters und damit auch ein „Ende der Geschichte“, einer Transzendenz der kulturellen Unterschiede, wie es McKenna prophezeite: Die Menschen gelangten zurück zum Mysterium des Lebens, jenseits von religiösen oder wissenschaftlichen Welterklärungsmodellen. „Viele von uns haben es in ihrem durchgeplanten Leben vergessen, was es heißt, Mensch zu sein“, sagt Lorentzen. „Rituale, Nackttanzen im Wald, solche Dinge.“