Im Flüchtlingslager Jenin galt er als Ikone des Widerstandes. Immer wieder versuchte die israelische Armee, ihn zu töten. Statt seiner starben Freunde. Seine Mutter sah er verbluten. Jahre später und ausgezehrt von Haft und Folter führt Zakaria Sbeidi nun den Kampf weiter – an einem Theater.
Hinter der Mauer wartet der Tod. Die kleinen Finger umklammern den Griff einer Maschinenpistole. Die Schritte kommen näher. Mit einem lauten Schrei springt Jussuf aus seinem Versteck. Sekunden später liegen drei Kinder regungslos am Boden. "Jetzt will ich das Gewehr, und du nimmst die Pistole", sagt der zwölfjährige und reißt die Plastik-Kalaschnikow an sich. Ziemlich echt sehen die Waffen aus. Die Einschusslöcher in den Mauern sind es. "Die Brigaden gegen die Armee" heißt das beliebte Spiel auf den Straßen des palästinensischen Flüchtlingslagers Jenin im Westjordanland. Zakaria Sbeidi ist eine Art lebender Prototyp. Einst war er Israels meistgesuchter Terrorist. Nun sitzt er auf der staubigen Treppe eines Lebensmittelladens und achtet darauf, dass das simulierte Kindersterben nicht zu laut wird: "Kommt schon, haut ab", beendet er das Scharmützel und streicht einem der nun wieder lachenden Toten väterlich über den Kopf.
Fünf Jahre ist es her, als ich Sbeidi im Flüchtlingslager im Norden der Westbank kennenlernte: Ein schmaler freundlicher Mann mit schwarz-gesprenkeltem Gesicht. Ein Freund hatte einmal das Rohr mit der Sprengstoffladung in die verkehrte Richtung gehalten. Früher war er Anführer der Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden, nun ist er Theaterdirektor. Ein mächtiger Mann. Und doch wirkt er hinter seinem stets milden Lächeln wie ein trauriger Schuljunge, über dessen Pausbäckchen jeden Moment die Tränen zu kullern drohen. Jeden zweiten Morgen klingelt es an der Tür: "Eine Tüte Weintrauben?" "Wurde der Herd immer noch nicht geliefert?" Mit einem freundlichen "Ma Schi?" – "Alles in Ordnung?", verabschiedet er sich. Ein Blick die Straße hinunter, ein Blick zum Himmel. Dort brummt unsichtbar die israelische Überwachungsdrohne. Am Boden brummt der Dreitürer. Der Anführer einer der gefürchtetsten Milizen der Zweiten Intifada fährt VW-Polo. Aus dem Fenster ragt die Mündung eines amerikanischen M16-Sturmgewehrs. An dessen Ende wachen drei durchtrainierte Männer. Das Gerücht, Israel habe ihn von "der Liste" genommen, verbreitete sich damals im Lager. Sbeidi sollte zu jenen 178 Kämpfern gehören, denen im Gegenzug für die Abgabe ihrer Waffen eine Amnesty angeboten worden sei. "Gott sei Dank!", freuten sich jene, die ihn mochten laut. "Verräter", stöhnten einige heimlich. "Warten wir ab. Vielleicht bin ich morgen tot", sagte Sbeidi. Warum im Bund seiner Jeans trotzdem eine Pistole steckt? "Die ist zum Sterben, nicht zum Töten", antwortet einer, der zu viel Zeit seines Lebens hinter Gefängnismauern verbracht hat. Wäre Sbeidi eine Figur an seinem Theater, würden Kritiker sie wahrscheinlich als zu plakativ zerreißen: Zakaria wuchs auf in einer Wohnung, zu klein für eine zehnköpfige Familie; in einem Flüchtlingslager, zu klein für 15 000 von Gewalt und Armut traumatisierte Menschen. Der erste Israeli, den der junge Zakaria kennen lernte, nahm seinen Vater mit. Mit 13 traf ihn eine israelische Kugel das erste Mal ins Bein. Zu Hause lernte er die andere Seite Israels kennen: Seine Mutter hatte einer jüdischen Friedensaktivistin ein Zimmer für Theaterproben zur Verfügung gestellt. Ständig verkehren Israelis bei den Sbeidis. Israelis ohne Waffen, die sich für Aussöhnung und gegen die Besatzung einsetzen.
Trotzdem: Mit 15 landet er zum ersten Mal hinter israelischen Gefängnismauern. Sechs Monate dafür, dass er Steine auf Soldaten warf. Viereineinhalb weitere Jahre büßt er für einen Molotowcocktail. Sbeidi schlägt sich durch mit mies bezahlten Gelegenheitsarbeiten: Mal renoviert er in Tel Aviv Wohnungen wohlhabender Israelis, mal transportiert er Olivenöl. Er versucht sich bei den Sicherheitskräften der Palästinensischen Autonomiebehörde. Wenig später schmeißt er frustriert wieder hin. Als mit Ausbruch der Zweiten Intifada die israelische Armee in das Flüchtlingslager Jenin einrückt, greift auch Sbeidi zu den Waffen. Als ein Freund stirbt, schließt er sich einer Fatah-Miliz an, wird Bombenbauer. Er schickt Attentäter nach Israel, organisiert den Häuserkampf gegen die israelische Armee. Als sich Jenins palästinensischer Gouverneur weigert, Löhne auszuzahlen, lässt Zakaria ihn entführen. Das lokale Büro der Autonomiebehörde brennt er nieder. Viermal versuchen israelische Armee und Geheimdienste ihn zu töten – erfolglos. Sbeidi wird zur Widerstandsikone und um mächtigsten Mann des Lagers. Am Ende der Intifada liegen palästinensischer Freiheitskampf und das Flüchtlingslager in Trümmern. Die meisten von Sbeidis Kämpfern sind tot. Sein Bruder wurde erschossen. Seine Mutter sah er verbluten. "Nein, über die Intifada will ich nicht reden", sagt er auf den Stufen seines Theaters. Seine Intifada findet jetzt hier statt. "Kultureller Widerstand", nennt er das. Nach den Jahren des Mordens hatten alle Israelis das Haus seiner Mutter und das Lager verlassen. Nur einer kam zurück: Juliano Mer Khamis, jüdischer Schauspieler und Sohn jener Arna Mer Khamis, die im Haus von Sbeidis Mutter einst ihre Proben abhielt.
Er ist es, der Zakaria von einem Kampf überzeugt, der damit beginnen müsse, die Kinder wie Männer hinter den Mauern hervorzuholen, ihnen eine Alternative zur Gewalt aufzuzeigen. Zusammen gründen sie 2006 das "Freedom Theatre". Das Theater erhält Unterstützung aus der ganzen Welt. Kinder, die nur selten etwas anderes gesehen haben als die engen unverputzten Gassen des eineinhalb Quadratkilometer kleinen Lagers, bringen die Botschaft der Intifada in die ganze Welt. Im Jahr darauf kommt das Amnestieangebot. Im Gegenzug hilft Sbeidi dabei, die übrigen Milizen zu entwaffnen. Die Armeeoperationen werden weniger, das Leben im Lager ruhiger. Es ist kurz nach 22 Uhr. In einer neonbeleuchteten Garage treffen sich Jugendliche zum Billardspielen und Kämpfer des Islamischen Jihad, was dasselbe ist. Sie warten auf den Telefonanruf, der den Anmarsch der israelischen Armee ankündigt. Dann verstecken auch sie sich hinter durchlöcherten Mauern. Auf Kreuzungen haben sie zuvor Müllsäcke gestapelt. Als brennende Barrikaden sollen sie später die gepanzerten Bulldozer der Israelis aufhalten. Sbeidi schleicht im Polo vorbei "Komm, ich nehme dich mit", ruft er. Morgen wolle er mir seine Frau und Kinder vorstellen. Er scheint sich wohl zu fühlen in seiner neuen Rolle. Fünf Jahre später arbeitet Sbeidi immer noch am "Freedom Theatre." Sein Gesicht ist schmaler, seine Haltung ein wenig gebückter. Im April 2011 erschoss ein Unbekannter seinen Freund Juliano. Ein halbes Jahr später widerruft Israel unerwartet das Amnestieabkommen. Im Mai dieses Jahres wird ihm einmal mehr ein Sack über den Kopf gestülpt. Dieses Mal sind es seine ehemaligen Kollegen der palästinensischen Sicherheitskräfte. Wieder sitzt er in Haft. Als nach fünf Monaten der internationale Druck zunimmt und ein Arzt bestätigt, dass Sbeidis Hungerstreik binnen der nächsten drei Tage zum Tod führen werde, kommt er frei. Dass der Widerstand weitergehen müsse, sagt er in einer Erklärung zu seiner Inhaftierung. Er meint das nächste Stück am Theater, das heute so erfolgreich ist wie nie zuvor. Nur ein Theaterstück ist in Jenin bis heute noch populärer: "Die Brigaden gegen die Armee." Die meisten Kinder wollen Israelis spielen. "Die Palästinenser verlieren schließlich immer", erklärte mir Sbeidi einmal. Und auch die Frage, was die Intifada gebracht habe, beantwortet er dann doch: "Nichts. Wir leben. Das ist alles". Eine ganze Menge für einen Mann wie ihn.