William James, ein Mitbegründer der modernen Psychologie, schrieb 1890:
„Der Charakter des Menschen ist spätestens mit dreißig so erstarrt wie Gips, und er wird nie wieder weich werden." Dabei konnten wir uns noch nie so frei entfalten und nie so viel entscheiden wie heute.
Egal, ob man vor einer umfangreichen Speisekarte sitzt, im Geschäft nicht weiß, welches Kleid man nehmen soll oder auch nur im Supermarkt auf die vier Warteschlangen vor der Kasse zusteuert. Das Leben besteht jeden Moment aus Entscheidungen. Psychologen sprechen sogar von einer „Tyrannei der Wahl". Denn auch Freiheit kann überfordern. Alles vorausplanen und die Gegenwart verpassen? Oder einfach mal abwarten, was kommt, und sich so vielleicht die Zukunft verbauen? Warum zu viel Auswahl unglücklich macht, ist nicht eindeutig geklärt. Die Forscher haben erst angefangen zu verstehen, was bei Entscheidungen in uns vorgeht. Und sie entdecken dabei, wie sehr wir beeinflusst werden: von den Hormonen, den Tricks von Verkäufern, der eigenen Herkunft, der Familie und natürlich von unseren spontanen Gefühlen. Auch wenn wir glauben, souverän zu entscheiden, lassen wir uns von Faktoren beeinflussen, die wir nicht einmal bemerken. Psychologen der Universität Saarland haben gezeigt, dass wir bei Entscheidungen dazu neigen, die uns vertrautere Alternative zu wählen. Es verschafft uns ein Gefühl der Belohnung, wenn wir etwas wiedererkennen. Genau das spricht für einen Weg abseits des Trampelpfades. Denn nicht immer führt der Hang zum Vertrauten zu den besten Entscheidungen.
Ambivalenz, das Uneindeutige, hat historisch oft Angst ausgelöst. Was man nicht eindeutig kategorisieren kann, wirkt bedrohlich. Dabei kann man enorm davon profitieren, die Zügel auch mal ganz loszulassen. Denn auch an einem Tag, den man „laufen lässt", kann man Aufgaben erfolgreich erledigen. Aber eben im Takt mit dem individuellen Biorhythmus und der eigenen Gefühlswelt. Das lässt sich nur bedingt planen. Und genau dieser Aspekt macht vielen Menschen Angst. Schließlich tut man alles aus einem bestimmten Grund. Man liest ein Buch, um etwas zu lernen; macht Sport, um „besser" zu werden; man arbeitet, um Geld zu verdienen. Dabei kann man Ambivalenzen als Chance sehen: anstatt die Welt in Schwarz und Weiß zu unterteilen, kann man seinen Blick für die vielen Graustufen dazwischen erweitern. Offener und aufmerksamer für die Dinge sein, die man auf der Zielgeraden gar nicht wahrnehmen würde. Gegenwärtig wird nämlich argumentiert, es sei nicht zielführend, sich in einer Welt der Individualisierung und Flexibilisierung zu sehr festzulegen. Für die multikulturelle Gesellschaft der Zukunft wird die „kulturell adaptive Diffusion" - ein Begriff, den die Identitätsforschung geprägt hat - zunehmend Bedeutung erlangen. Kulturell adaptive Diffusion ist notwendig, wenn Unverbindlichkeit, Offenheit und Flexibilität gefordert werden.
Für ein Individuum ist es dann sinnvoll, sich beruflich und privat nicht festzulegen, um bestimmten Anforderungen besser gerecht zu werden. Mit klaren Wertvorstellungen und festen Zielen kann man sich an rasch wechselnde Bedingungen nicht so schnell anpassen. Auch im Urlaub kann es enorm befreiend sein, einfach mal ins Blaue hinein zu fahren, ohne festgelegtes Ziel. Zu genießen, dass man etwas für sich tut. „Mein Mann und ich gönnen uns manchmal ein ganzes Wochenende, wo wir von früh bis spät exakt das tun, wonach uns ist. Keine Termine, keine festen Verabredungen, keine festen Pläne. Schlafen, wenn wir müde sind. Essen, wenn wir Hunger haben. Das tut auch unserer Beziehung gut", erzählt Kindergärtnerin Claudia H. Dass sie damit richtig liegt, bestätigen auch die Experten. Denn Stress blockiert nachweislich das Denken. Also lassen Sie ruhig einmal los. Sie werden vielleicht dabei die Richtung ändern. Aber ohne Ziel stimmt jede Richtung.
Text: Eva Helfrich