„Mit Zwanzig hat jeder das Gesicht, das Gott ihm gegeben hat, mit Vierzig das Gesicht, das ihm das Leben gegeben hat und mit Sechzig das Gesicht, das er verdient.“ Nicht nur Albert Schweitzer war der Meinung, dass man einem Menschen ansieht, wie er ist. Schon seit Jahrtausenden findet die These Anhänger, dass das Gesicht einer Person uns Aufschluss über deren Wesen gibt.
Es ist 11 Uhr Vormittag an einem glühend heißen Montag. Im Dachgeschoß des Salzburger Festspielhauses wimmelt es vor Menschen mit Bauchtaschen voller Haarklammern und Pinsel. Sie alle sind da, um sich Tricks und Kniffe vom Besten der Besten abzuschauen. Neil Young, der Make up Artist mit der Glatze und den schnörkeligen Tattoos, steht auf einer kleinen Bühne. Neben ihm sein Schminktisch mit sämtlichen Raffinessen, die der Kosmetikriese MAC, für den er als Senior Artist tätig ist, zu bieten hat. Seit drei Jahren machen die Festspiel-Maskenbildner mit dieser breiten Produktpalette aus renommierten Schauspielern wie Ben Becker, Birgit Minichmayr, Veronica Ferres oder Nicholas Ofczarek den Jedermann, dessen Buhlschaft, den Tod und die zahllosen anderen Figuren aus weltberühmten Schauspielstücken. Jeder Pinselstrich und jeder Farbtupfer muss sitzen, denn ihr hohes Niveau macht die Salzburger Festspiele aus. Tausende Zuschauer erwarten sich Höchstleistungen und die Echtheit des Gespielten, wofür über achtzig Visagisten verantwortlich sind. Vor allem die ORF-Übertragung in High Definition fordert Perfektion; kein Make up-Rand, kein verpatzter Lidstrich, kein verirrter Lippenstift auf den Zähnen darf zu sehen sein. Denn: High Definition macht das Offensichtliche noch viel klarer. Neil verreibt Foundation in seinen Händen und beginnt, ein Model mittleren Alters zu schminken. „Ich arbeite mich echten Menschen und echten Gesichtern. Das ist eine Herausforderung, denn die HD-Kamera lügt nie“, erklärt er. Neil sieht sich zuerst die Person an, die er schminken soll und entwickelt in zweiter Instanz Ideen für das Make up, damit er die Charakteristika der Person nicht verfälscht. „Wenn man eng mit Menschen zusammenarbeitet, entwickelt man eine Intuition für Gefühle. Ich kann aus Gesichtern mittlerweile viel herauslesen.“
Auch wenn es nicht bewusst geschieht, der Mensch ist
enorm auf Gesichter und Ausdrücke fixiert. Wenn wir eine Person zum ersten Mal treffen, scannen wir unser
Gegenüber für Sekundenbruchteile auf Faktoren wie Kleidung,
Haltung, Mimik und Gestik – und das ganz automatisch. Dieses erste
Bild des Gegenübers wird an das Gehirn weitergeleitet, wo es das
limbische System auf Basis von Erfahrungen einordnet und bewertet.
Erst danach gelangt die Information in unser Bewusstsein. Gerade bei
Bewerbungsgesprächen spielt das „Gesichterlesen“ eine Rolle.
Personalchefs haben meist schnell eine Vorstellung davon, ob ein
Bewerber ein interessanter Kandidat sein könnte oder nicht. Doch
woher kommt diese intuitive Einschätzung? Evolutionsbiologisch macht
es durchaus Sinn, dass der Mensch Gesichter genau analysiert, denn
sie enthalten eine Fülle von Informationen. Sie verraten etwas über
die Identität einer Person, ihren Gesundheitszustand und – was am
wichtigsten ist – sie enthüllen den emotionalen Status des
Gegenübers. „Ein Gesicht erzählt unendlich viele verschiedene
Geschichten. Man muss es nur ansehen, um zu wissen, wo die Person war
und wer sie ist“, erklärt Neil, während er eine Schicht losen
Puder aufträgt, um auch den kleinsten Ansatz von Glanz im Keim zu
ersticken. Wie visuell wir veranlagt sind, zeigt schon allein, worin
wir überall Gesichter zu erkennen glauben. Bei den Anschlägen auf
das World Trade Center in New York schien etwa die Fratze eines
Teufels aus dem herausquellenden Rauch auf die Stadt zu schauen. Und
wer lange genug reinschaut, entdeckt im Satz seiner Kaffeetasse
bestimmt auch ein humanes Antlitz.
Neil erzählt von dem Moment, der den
Grundstein für seine Karriere gelegt hat. In den 1980ern schlendert
er durch London und sieht in einem Schaufenster eine Werbekampagne
mit Linda Evangelista. Er verliebt sich in dieses Gesicht mit den
buschigen Augenbrauen, der makellosen Haut und den symmetrischen
Zügen. „Als ich Linda viele Jahre später traf, war sie genauso
toll wie sie aussah.“ Kann
man also vom Aussehen einer Person Rückschlüsse auf ihre
Persönlichkeit ziehen? „Ja“, meint Ilona Weirich, die sich seit
20 Jahren mit der sogenannten Psycho-Physiognomik, der Lehre, aus
Körper und Gesicht auf die Eigenschaften eines Menschen zu
schließen, beschäftigt. „Ich kann schauen ob ein Mensch
mathematisch oder musisch begabt ist. Ob er ein Perfektionist ist und
sich fertig macht, wenn ihm keine hundert Prozent gelingen. Ob er
kontaktfreudig oder eher zurückhaltend ist. Diese Liste kann ich
seitenweise füllen.“ Die jeweiligen Anlagen, Fähigkeiten und
Persönlichkeitseigenschaften eines Menschen zeigen sich demnach in
den Körper-, Kopf- und Gesichtsformen, in den Strahlungen und
Spannungen der Haut und in der Körpersprache.
„Wenn wir genervt sind oder in Resignation verharren, macht sich das in der Mundmimik deutlich. Dort ist auch die Verdauung zu sehen. Nicht nur vom Essen, sondern auch unserer Gefühle, die süß, sauer oder bitter sein können“, erklärt Weirich. Doch die Frage nach dem Rückschluss von der Optik auf die Persönlichkeit ist nicht nur enorm umstritten, sondern auch stark emotional besetzt, denn die Nationalsozialisten nutzten die Physiognomik für ihre Rassenlehre und verknüpften bestimmte Körpermerkmale mit einem Werturteil. Ilona Weirich distanziert sich explizit von Schubladendenken und betont „Meine Analysen treffen nur auf den deutschen Kulturkreis zu. Die Areale sind zwar bei allen Menschen gleich, ich müsste aber bei einem arabischen oder finnischen Kulturhintergrund zuerst schauen, ob die Nase tatsächlich groß oder eher klein ist.“ Auf Weirichs Homepage gesichtspunkte.net findet man die Bedeutungen der unterschiedlichen Gesichtsareale: Die Augen zeigen Gefühlseindrücke, die Nase den Selbstverwirklichungswillen, die Ohren zeigen unsere tiefsten Sehnsüchte, die Jochbeine verraten Eigensinn und Widerstand, der Unterkiefer zeigt unser Durchsetzungsvermögen und die Stirn gibt Aufschluss über Potenziale und das Denkvermögen. Die Treffsicherheit dieser Zuschreibungen sei zwar dahingestellt, Albert Schweitzer behält jedoch mit Sicherheit Recht.