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Reportage

Wenn man nehmen muss


Jeder Mensch kommt als Pflegefall auf die Welt. Zu Beginn unseres Lebens sind wir alle bedürftig, schwach und auf die Fürsorge anderer angewiesen. Bei manchen entscheidet das Schicksal, dass es ein Leben lang so bleibt. Für viele ist es die größte Angst, dass es uns nach dem Windelalter noch einmal so ergeht.


Leon und Jacob lassen sich im Kinderbecken im Salzburger Paracelsus Bad treiben. Zwischen den prall gefüllten Schwimmflügeln lugen zwei vergnügte Gesichter hervor, die fast ident aussehen. Im Wasser kann man die sechsjährigen Zwillinge kaum auseinander halten. Sobald sie das Becken verlassen, trifft die Realität den gravierenden Unterschied: Jacob hat eine Behinderung. Weil er 35 Minuten später auf die Welt kam als sein Bruder, wird sein Leben immer anders sein als das von Leon. Während dessen Geburt problemlos verlief, wickelte sich Jacobs Nabelschnur um seinen Hals, wurde abgeklemmt und versorgte ihn mit zu wenig Sauerstoff. Als er auf die Welt kam, war er blau angelaufen und musste beatmet werden.

„Ich kann auch tauchen“, presst er mit viel Mühe heraus, tunkt den Kopf ins Wasser und dreht ihn grinsend zu Mama Franziska. Die mangelnde Sauerstoffzufuhr bremst Jacob in der motorischen Entwicklung. Arme und Beine sind durch die spastische Lähmung einwärts gedreht, seine Sicht ist eingeschränkt und das Sprachzentrum beeinträchtigt. „Die Ärzte haben gesagt, Jacob würde vielleicht nie sprechen lernen“, sagt Franziska während sie ihren Sohn abtrocknet. Leon ist schon im Bademantel und setzt sich zu den beiden auf die Bank. Er muss viel alleine machen, weil die Eltern mit Jacob sehr beschäftigt sind. Wie viele Geschwister von behinderten Kindern muss auch er oft Rücksicht nehmen und seine Bedürfnisse zurückstellen. „Das geht leider nicht anders, weil unser Tagesablauf sich nach Therapien, Arztbesuchen und regelmäßigen Mahlzeiten richtet“, erklärt Franziska und schaut ihren gesunden Sohn entschuldigend an. Wie es ihm damit geht, dass sich Mama und Papa so stark auf seinen Bruder konzentrieren? „Naja, der Jacob kann halt nicht viel alleine machen“, gibt sich Leon duldsam. „Wir haben Glück, zwei so liebe Burschen zu haben. Der Leon geht wirklich gut mit seinem Bruder um und ist ein selbstbewusstes, eigenständiges Kind. Er geht offen auf Leute zu und findet immer jemanden zum Spielen oder Quatschen“, lacht die Mama. Dass Jacob jemals laufen oder auf die gleiche Schule gehen wird die Leon, daran zweifelt sie. „Er bemüht sich und es ist eine Entwicklung da, gerade beim Sprechen. Aber es geht sehr langsam und in kleinen Schritten.“ Auf Hilfe von außen wird er noch lange, wenn nicht für immer angewiesen sein.


Kinder haften für ihre Eltern

Zur Zeit werden rund 80 Prozent aller betreuungs- und pflegebedürftigen Personen in Österreich von ihren Angehörigen zu Hause versorgt. Pflegebedürftigkeit kann jeden treffen – ob in jungen Jahren, als Folge eines Unfalls oder als älterer Mensch, wenn die Kräfte nachlassen oder sich Krankheiten einstellen. „Dass etwas nicht stimmt, haben meine Schwester und ich bemerkt, als unsere Mutter immer aggressiver wurde“, erzählt Isabella. „Sie beschimpfte uns, sobald wir ihr im Haushalt zur Hand gehen wollten.“ Was Isabella ahnt, wird durch eine Untersuchung Gewissheit: Ihre Mutter leidet an Demenz. Dem ambulanten Pflegedienst, den ihre Töchter organisiert hatten, schlug sie die Türe vor der Nase zu. „Ich habe Gespräche mit Ärzten und Sozialarbeitern geführt, aber ich kam nicht weiter.“ Auch ein betreutes Wohnen schlägt die Mutter aus. Isabella findet sie kurz darauf bei einem Besuch nackt am Badezimmerboden. Sie wisse nicht, wie lange sie da schon liege, gab sie zu. Isabella trifft mit ihrer Schwester die bislang schwierigste Entscheidung ihres Lebens: Sie übernimmt die Sachwalterschaft für ihre Mutter – und damit auch die Selbstbestimmtheit aus dem Leben der Frau, die immer für sie da war. „Ich fühlte mich so egoistisch, weil ich sie in Fremde Hände gab. Neben der Arbeit hätten wir zu wenig Zeit für sie gehabt. Und alleine wäre sie verkommen.“ Seit neun Monaten lebt die Mutter in einem betreuten Wohnheim, die Töchter wechseln sich ab, so dass täglich Besuch kommt. „Sie ist wieder ausgeglichener, isst regelmäßig und lebt vor allem nicht alleine.“ Denn Alleinsein, das wäre doch das schlimmste Übel.