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Danke für ... Zeit.

Dass man nie so viel Zeit hat, wie man denkt, wird einem meist dann bewusst, wenn die Uhr aufgehört hat zu ticken. Kürzlich ist der Vater einer guten Freundin gestorben, völlig unerwartet. Zu dem Schmerz, einen geliebten Menschen verloren zu haben, kamen auch noch Gedanken hinzu wie „Ich hätte ihn öfter besuchen sollen“, oder „Hoffentlich wusste er, wie lieb ich ihn habe“. Hätte, könnte, sollte, wollte ... nichts tut mehr weh als der Konjunktiv, wenn die Zeit abgelaufen ist. Worauf warten wir also so oft im Leben? Um jemandem etwas zu sagen. Um sich etwas zu trauen, das man schon lange im Kopf hat. Um glücklich zu sein. Der ideale Zeitpunkt dafür wäre nämlich: Jetzt.

Jean-Baptiste Massillon bezeichnete die Dankbarkeit einmal als das „Gedächtnis des Herzens“. Unser Alltag ist durchzogen von unerwarteten Gesten, ehrlichem Lob, Trost und Mitgefühl. Von der Freiheit, zu tun, was man kann. Von so etwas wie Verzeihen, einem Lächeln, echter Freundschaft, Musik und dem hohen Himmel im Herbst. Auch wenn man sich im Leben stets vorwärtsbewegen soll, schadet es manchmal nicht, stehen zu bleiben und noch einmal zurück zu schauen. Sich die Arme in Erinnerung zu rufen, die einen getragen haben, wenn man schwach war. Die Momente, in denen jemand einen zum Lachen gebracht hat, wenn man eigentlich schreien wollte. Ein Religionslehrer hat uns in der Schule einmal die Frage gestellt, was das Kostbarste auf der Welt ist. Wir tippten auf Liebe, Familie, Freunde – und natürlich auch auf Geld. Wir waren damals so jung, dass wir auf „Zeit“ gar nicht kamen. Aber in Wahrheit ist es so: Das einzige, das uns unter Garantie einmal ausgeht, ist die Zeit. Vielleicht sollten wir uns deshalb gut überlegen, was wir damit anstellen. Ob es wirklich so wichtig ist, der Beste im Job oder der Reichste am Friedhof zu sein. Der Vater meiner Freundin war übrigens der beste, den ich kannte.