Was ist, wenn die Grippe, der Infekt und das Fieber selbst nach Wochen und Monaten nicht mehr weggehen? Wenn alle Blutwerte scheinbar in Ordnung sind und kein Arzt einem sagen kann, warum man sich so krank fühlt? So ähnlich geht es in Deutschland hunderttausenden Menschen - eine von ihnen: Sonja Kohl. Die Kommunikationsdesignerin ist seit Januar 2018 bettlägerig.
ME/CFS - Myalgische EnzephalomyelitisHeute weiß die mittlerweile 37-Jährige, dass sie an ME/CFS erkrankt ist. Das Kürzel ME steht für "Myalgische Enzephalomyelitis", CFS für "Chronic Fatigue Syndrom", zu deutsch: Gehirn- und Rückenmarkentzündung und Chronische Erschöpfung. Dass die Krankheit so viele Namen trägt, macht deutlich: Bis heute weiß keiner genau, was der Auslöser für sie ist und was im Körper der Betroffenen genau schief läuft.
Dunkelziffer für ME/CFS ist hochEin Viertel der ME/CFS-Betroffenen können das Haus oder ihr Bett kaum noch verlassen.
Ein Deutschland sind rund 240.000 Menschen an ME/CFS erkrankt. Jeder Vierte von ihnen ist bettlägerig oder kann das Haus kaum noch verlassen, wie Sonja Kohl. Kaum einer geht noch einer geregelten Arbeit nach oder zur Schule. Und: Viele mit diesen Symptomen wissen nicht mal, dass sie an ME/CFS erkrankt sind, weil auch Ärztinnen und Ärzte sich damit nicht auskennen.
Fehldiagnose bei ME/CFSME/CFS ist eine komplexe Krankheit, die zahlreiche Symptome hat und leicht fehldiagnostiziert werden kann, wenn sich Ärztinnen und Ärzte nicht auskennen. Ein wichtiges Symptom ist die sogenannte "post exertional malaise". Selbst eine kleine Anstrengung - körperlich oder geistig - kann zur totalen Erschöpfung führen, wie nach einem Marathon. Es dauert im besten Fall Tage oder Wochen, bis sich Patientinnen und Patienten davon erholt haben. Manche erholen sich überhaupt nicht mehr. Nur fünf Prozent der Erkrankten werden wieder ganz gesund.
Darüber hinaus haben die Betroffenen Probleme mit ihrem autonomen Nervensystem, das zum Beispiel den Blutdruck steuert. Andere haben Konzentrations-, Merk- und Wortfindungsstörungen, sowie eine Überempfindlichkeit auf Sinnesreize wie Licht oder Geräusche. Viele haben auch Muskel-, Kopf- und Gelenkschmerzen.
Dauerkrank durch ME/CFSSonja Kohl erkankte im Jahr 2012 auffällig häufig an kleineren Infekten: Erkältungen, Bronchitis - alles Beschwerden, die normalerweise wieder abheilen. Doch sie blieb krank. Ihr damaliger Arzt konnte ihr auch nicht sagen, was das Problem ist. Er vermutete eine psychische Ursache. Sein Ratschlag: gesunde Ernährung und ein wenig Sport. Was beide damals noch nicht wussten: Bei ME/CFS verschlimmert selbst leichter Sport die Krankheit.
Endlich die Diagnose ME/CFSAnfang 2016 fand Sonja Kohl einen Arzt, der endlich die Diagnose "ME/CFS" stellte und begann, einige ihrer Symptome zu behandeln. Die IT-Fachfrau wollte nicht aufgeben, gemeinsam mit ihrem Freund setzte sie sich ein moderates Sportziel - jeden Tag 20 Minuten Fahrrad fahren.
Wie ein Arzt ME/CFS auf die Schliche kamDer Psychologe Leonard Jason von der DePaul Universität in Chicago, USA, war einer der ersten, die herausgefunden haben, dass ME/CFS auch keine seltene Krankheit ist. Bis in die 1990er Jahre hinein ging die US-Gesundheitsbehörde nämlich von nur 20.000 Erkrankten in den USA aus. Doch die damaligen Untersuchungen waren schlecht gemacht. Leonard Jason konnte die Zahl korrigieren, indem er tausende Bewohner der Stadt Chicago befragte. Er rechnete hoch und kam auf über eine Million Betroffene in den USA. Viele von ihnen auch Kinder und Jugendliche, die nicht mehr die Schule besuchen können.
Was passiert bei ME/CFS? Infektion häufig Auslöser Zu wenig Energie in den Zellen Energie-Stoffwechselfalle? Einfluss der Hormone? Autoimmunkrankheit? ME/CFS wird nicht ernst genommenBis in die frühen 2000er-Jahre hinein wurde ME/CFS als psychische Krankheit definiert, als "Hysterie" oder "Yuppie-Grippe" abgetan. Erst in den letzten Jahren - angetrieben durch das Engagement von Betroffenen und den medizintechnischen Fortschritt - hat sich einiges bewegt. Dennoch, die Situation der Erkrankten ist erschreckend.
Filmplakat des Dokumentarfilms "Unrest" - die Regisseurin Jennifer Brea war jahrelang auf der Suche nach einer Behandlung für ME/CFS.
Es gibt zum Beispiel nur eine einzige Universitätsklinik deutschlandweit, die zu ME/CFS forscht und eine Spezialambulanz betreibt. Sie ist so überlaufen, dass sie nur erwachsene Patientinnen und Patienten ab 18 Jahren aus dem Raum Berlin/Brandenburg aufnimmt. Alle anderen Betroffenen haben keinen Ansprechpartner und müssen darauf hoffen, dass sich ihr behandelnder Arzt, ihre Krankenkasse und ihr Sozialversicherungsträger zufällig mit der Krankheit auskennt.
Ein Skandal, sagen die Patientenorganisation Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und internationale Experten. Denn hierzulande sind 240.000 Menschen betroffen, weltweit 17 Millionen. ME/CFS ist keine seltene Krankheit, bekommt aber nur einen Bruchteil der Förderung, die zum Beispiel die HIV-Forschung bekommt, aber in Deutschland um die Hälfte weniger Menschen betrifft. Darüber hinaus haben Menschen mit ME/CFS mit die niedrigste Lebensqualität von Patienten mit chronischen Krankheiten.
Initiative Millions Missing DeutschlandSonja Kohl engagiert sich darum bei "Millions Missing Deutschland", zu deutsch "Millionen Verschwundene".
Schuh-Aktion macht ME/CFS-Betroffe sichtbarDemonstration der ME/CFS-Initiative "Millions Missing"
In rund hundert Städten weltweit wurden im Mai 2018 Demonstrationen organisiert. Dabei haben Betroffene und Angehörige kurze Nachrichten von diesen verschwundenen Menschen geschickt, zusammen mit einem Paar Schuhe von jedem Erkrankten, die dann auf Grünflächen oder Plätzen ausgestellt wurden. Dazu gab es Reden und Infostände. So sollen die, die in ihren Wohn- und Schlafzimmern gefangen sind, wieder ein Gesicht bekommen. Das Motto: "Can you see me now?" - "Könnt ihr mich jetzt sehen?"
FazitMyalgische Enzephalomyelitis ist eine Krankheit mit einem komplizierten Namen, die weltweit unterschätzt wird. Die Experten sind sich einig: Die Gesellschaft und die Politik sind es den Betroffenen schuldig, sie endlich ernst zu nehmen, auch wenn das noch viel Geld kosten wird. Bis heute gibt es weltweit keine wirksame Therapie, um die Krankheit zu behandeln oder zu heilen.
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