Ein altes Farmhaus in einer verlassenen Gegend, gehüllt in weißen Nebel - das ist der wenig einladende Schauplatz der ersten Szene in der dritten Staffel der erfolgreichen Netflix-Fantasyserie "The Witcher". Ein Gesandter mit Spitzenkragen hat eine Gefolgschaft von Kämpfern bei sich. Sie sind auf der Suche nach einem Mädchen nobler Geburt und einem bleichen Wüstling ohne Manieren. Geschickt wurden sie vom Feuermagier Rience (Chris Fulton), der für Informationen über die Gesuchten ein halbes Vermögen bieten möchte. Wie von Geisterhand schließt sich das Scheunentor und die Männer stürmen hinaus. Auf sie wartet in gelassener Pose niemand anderes als der gesuchte Bleiche: Geralt von Riva (Henry Cavill). Der schwingt, als wenn er tanzen würde, leichtfüßig sein Schwert und entgegnet dem Flehen nach Gnade allein mit einem brummenden "Hm".
Auf ein Wiedersehen mit dem wortkargen Hexer, der durch Mutationen Superkräfte besitzt und es für Geld mit jeder Menge Schlamm und mythischen Monstern in einer Welt voller Zwerge, Dämonen, Elfen und Menschen aufnimmt, haben Fans seit 2021 warten müssen. Damals flimmerte die zweite Staffel der Geschichte, die auf den Büchern des polnischen Autors Andrzej Sapkowski basiert und auch als Videospiel große Erfolge feiert, über die heimischen Geräte. Mit der Hexer-Ausbildungsstätte Kaer Morhen als einer der zentralen Orte wurde mehr als noch in der ersten Staffel über die Genese der Hauptfigur Geralt verraten. Zudem erlebte das Publikum die Wandlung der Thronfolgerin von Cintra, Ciri (Freya Allan), die ganz im Stil von Luc Bessons "Léon - Der Profi" durch das Erlernen der Kampfkunst ihrer Lehrmeister von der Prinzessin zur autonomen Kriegerin wird.
So spannend das auch war, krankte die Serie in der zweiten Runde an einem bekannten Phänomen: zu viel Handlung - zu wenig Zeit. In acht Episoden wurden massig neue Gegenspieler und alte Wegbegleiter reingequetscht. Die sind jedoch schneller gestorben, als sie ihren Charakter entwickeln konnten, wie etwa Geralts Verbündeter Eskel. Damit war es egal, wer da gerade abgemurkst wurde. Dazu kamen überraschende Allianzen, mehr Prophezeiungen und verschlungene Stammbäume. Ganz davon abgesehen, dass Portale in andere Dimensionen, apokalyptische Reiter (Wild Hunt) und eine intrigante Hexe mit Anlehnung an die Märchengestalt Baba Jaga Erzählstränge verknüpften. Ein Knoten in den Gehirnwindungen - fast unvermeidlich.
Die neue Staffel jedoch läutet eine neue Phase der Geschichte ein, wenn die drei Hauptfiguren Geralt, Ciri und Magierin Yennefer von Vengerberg (Anya Chalotra) endlich wieder vereint sind. Das vorherige Aufeinandertreffen von Ziehvater, Ziehmutter und Waise wurde überschattet, da Yennefer versucht hat, Ciri an ihre Feinde auszuliefern. Jetzt allerdings erleben die Zuschauer endlich, wie Geralt und Yennefer die Kräfte ihrer Adoptivtochter gemeinsam in verschiedenen Disziplinen trainieren und sie erziehen. Ganz ohne Hintergedanken der zuvor so machtbesessenen Magierin. Treue Zuschauer wissen auch, dass sich durch die Dreisamkeit Yennefers Kinderwunsch aus der ersten Staffel erfüllt hat, was emotionale Pluspunkte bringt.
Einziges Problem: Geralt nimmt der Zauberin ihren Verrat immer noch übel. Hier kommen nun die bei Lesern der Buchvorlage beliebten "Lieber Freund"-Briefe ins Spiel. Diese bringen auf Papier, was die Beziehung dieser beiden Liebenden besonders macht. Leidenschaftliche Anziehung zeigen auch andere Fantasy-Geschichten, bei "The Witcher" treffen diese aber auf hölzerne und ungeschickte Dialoge, die immer wieder für herzliche Lacher sorgen. Gerade noch im Bett wälzend kann vor allem Geralt diese Intimität nicht in Worte fassen. Das kulminiert in der distanzierten Anrede "Freund", die nun auch Yennefer als Retourkutsche nutzt. Dysfunktionale Familienbande mit Kommunikationsproblemen gibt es auch unter magischen Kreaturen, so die Botschaft.
Ungewohnt lange können die drei Figuren eine neue familiäre Einheit formen. Dies und das nahe Dranbleiben an Ciri, Yennefer und Geralt macht die doch recht große Figurenentwicklung der Magierin glaubwürdig. Anya Chalotra, die die willensstarke Magierin stets mit stechendem Blick porträtiert, wird auch nicht plötzlich soft, sondern sie realisiert, wie viel ihr die Beziehungen zu Ciri und Geralt bedeuten und handelt dementsprechend.
Auch der tollkühne Hexer, der sich in jede Gefahr stürzt, ohne jemals an Konsequenzen zu denken, hat inzwischen wirklich was zu verlieren. Der Monsterjäger, der wegen seiner begabten und wegen ihres Blutes einzigartigen Ziehtochter zum Gejagten geworden ist, wäre aber natürlich nicht Geralt von Riva, wenn er nicht die Spur von Rience aufnehmen würde. Bedeutungsschwanger klingt der Krieger mit breiten Schultern zum Ende der ersten Episode, als er allein weiterzieht: "Nun - zum ersten Mal - verstehe ich echte Angst. Dich und Ciri niemals wiederzusehen. Viel ist unsicher auf diesem Kontinent."
Dazu bekommen etablierte Nebenfiguren die Chance, über sich hinauszuwachsen. Der Barde Rittersporn (Joey Batey) verpackt seine Emotionen seit der ersten Begegnung mit ihm in Songs. "Toss A Coin to Your Witcher" schaffte es sogar über die Serie hinaus zum viralen Hit. Auf Youtube wurde ein Video zu dem Song 34 Millionen Mal aufgerufen. Wie der Titel zeigt, drehten sich Rittersporns Werke allein um den gut aussehenden Hexer, den er über alle Maße verehrt. Im neuen "Witcher"-Teil komponiert der vom Unglück verfolgte Dampfplauderer nun aber mal ein Lied mit der Erkenntnis, dass er selbst auch ganz okay ist.
Serienschöpferin Lauren Schmidt Hissrich und ihr Team lassen Rittersporn in der zweiten Staffel sogar ganz untypisch für das Fantasy-Genre die vierte Wand brechen, um auf die Kritik der Fans von zu unübersichtlichen Zeitsprüngen einzugehen. Und tatsächlich folgt sowohl die zweite als auch die dritte Staffel stärker einer linearen Erzählweise. Kleine Spielchen mit der Zeitebene lassen sich die Macher nicht nehmen, die geben den letzten beiden Folgen des ersten Teils der dritten Staffel den nötigen Wumms. Denn nachdem alle Figuren auf einem Fest zusammentreffen, werden durch die Wiederholung einzelner Szenen Zuschauer zu Detektiven. Sie erfahren aus unterschiedlicher Perspektive immer mehr, was geschieht.
Die Serie basiert auf dem "Akte X"-Prinzip, ein Monster pro Episode. Diese Wiederholung schafft Sicherheit im Seherlebnis sowie Kapazität für komplexe Erzählstränge. Allerdings wird damit auch das Verlangen nach stetigen Steigerungen gefüttert. Hier fällt das TV-Projekt leider auch im dritten Teil rein, denn statt sich darauf zu konzentrieren, die unbekannteren slawischen Legenden der Vorlage bildlich zum Leben zu erwecken, wird versucht, altbekannten Epen aus dem Sci-Fi- und Fantasy-Bereich nachzueifern. Die kleine Referenz auf "Jurassic Park" durch eine wackelnde Schale im Vorgänger war noch ganz süß. In der neuen Staffel hingegen wird Ciri genau wie Arwen aus "Herr der Ringe" von den untoten Reitern durch den Wald gehetzt, selbst die Kameraperspektive ist ähnlich. Man möchte laut "einfallslos" schreien. Obendrein wird mit der Aufteilung in zwei Teile einfach ein Netflix-Trend ("Stranger Things", "The Glory") für mehr Spannungsaufbau bedient, statt die unkonventionelle Geschichte ihr eigenes Ding machen zu lassen.
Wer das verkraftet und Henry Cavills Abschiedsrunde im Lederkostüm trotzdem einschaltet, wird dafür mit dem gruseligsten aller Monster bisher entlohnt. Geordneter und gestraffter wird in den ersten fünf Folgen von einem Magier-Showdown samt drohendem Genozid an Elfen, den Inzest-Plänen des Herrschers von Nilfgaard und einem noch anonymen Magier, der tödliche Portale erschaffen kann, erzählt. Dabei fordert der dunkle Stoff sein Publikum auf, sich zu involvieren. Was macht einen guten Herrscher aus, was sind in einer Welt voller Monster menschliche Qualitäten? Und wer ist überhaupt das Monster? Besonders progressiv werden diese unterschwelligen Fragen, wenn in der mittelalterlichen Umgebung mit starken Frauenfiguren trotzdem Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau herrscht. Gleiche Kraft und Leistung verhindern nicht, dass an das weibliche Geschlecht andere Erwartungen geknüpft werden. Je nach sozialem Gefüge müssen sie sich anders geben, um den eigenen Willen zu bekommen. Ciri selbst kommt zu der Erkenntnis, dass sich der Hexer im Gegensatz zu Yennifer nicht anpassen muss. Und wer noch den letzten Anstoß zur Überzeugung braucht: Geralt steigt wieder in die Badewanne.
Quelle: ntv.de
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