Berlin-Challenge: Reporter der Berliner Morgenpost stellen sich besonderen Herausforderungen. Teil 14: Unterwegs als Fahrradkurier.
Eines gleich vorweg: Ich bin einigermaßen sportlich. Und Fahrrad bin ich früher immer gefahren, zur Schule, zum Fußballtraining oder als Postbote. Richtig, ich war Postbote. Fünf Uhr morgens klingelte der Wecker, um sechs Uhr begann der Arbeitstag. Drei Stunden lang sortierte ich die Briefe und Postkarten, um neun Uhr ging es raus zum Austragen. Wer seit Jahrzehnten dabei war oder eine körperliche Begründung vorlegen konnte, bekam ein E-Bike, aber das waren die wenigsten. Ich bekam damals eines dieser gefühlt 40 Kilo schweren gelben Tretkolben, bei denen die Ständer nicht quietschten, sondern schrien. Dieses Geräusch vergesse ich nie.
„Das ist doch ein guter Sommerjob", dachte ich bei meiner Bewerbung. Und gut bezahlt wurde es auch, jedenfalls für jemanden wie mich, der gerade fertig mit der Schule war. Bis zum Studium waren es noch ein paar Monate, die wollte ich nutzen. Umzug, Wohnung, Semesterbeiträge, das alles musste irgendwie bezahlt werden. Doch meine Vorstellung, „ein paar Briefe austragen und ab 13 Uhr im Freibad liegen", entpuppte sich schnell als Wunschtraum. Klitschnass vom Dauerregen fuhr ich noch bis 17 Uhr durch die Plattenbauten des Hannoveraner Stadtteils Roderbruch und warf das Wochenendprospekt „Einkauf aktuell" in jeden einzelnen Briefkasten auf meiner Route. „Keine Werbung"-Aufkleber auf Briefkästen galten nicht für die Wochenend-Werbung. Warum weiß ich nicht. Die Sonnabende waren jedenfalls die Hölle.
Nach zehn Wochen war Schluss. Ich gab mein Poloshirt und die Schirmmütze mit dem Posthorn drauf wieder ab, danach war ich sechs Wochen krank. Die 11-Stunden-Tage hatten mich mürbe gemacht. Zu sehr hatte ich meinen Körper mit zu wenig Schlaf und zu vielen „Schwingen", so nennen sie bei der Post die Kisten, in denen die Briefe transportiert werden, malträtiert. Ein Job als Fahrradkurier? Nie wieder!
Nun, bekanntlich sollte man niemals „nie" sagen. Seither aber empfand ich immer ein Gefühl von Mitleid für Postboten und Fahrradkuriere aller Art. So auch für Menschen wie Nils, die auf ihren Rädern mit einer großen Frischhalte-Box auf dem Rücken durch den ruppigen Berliner Straßenverkehr strampeln. Nils ist 22 und fährt seit 14 Monaten Essen als Fahrradkurier aus. Heute werde ich ihn begleiten. Die Serie der Berliner Morgenpost nennt sich nicht umsonst „Challenge", also über Bord mit meinem veralteten Schwur.
Das Wetter spielt an diesem Tag glücklicherweise mit. Es ist sonnig, aber nicht heiß, kein Regen und kein Wind. In der Zentrale des Lieferdienstes „Deliveroo", auf einem Industriegelände im Berliner Wrangelkiez an der Schlesischen Straße in Kreuzberg, bekomme ich meine Ausrüstung: Fahrrad, Helm und den Würfelrucksack, in dem das Essen transportiert und warm gehalten wird. „Bequem ist anders", denke ich. Ein Fahrrad müssen die Kuriere in der Regel selbst besitzen. Bei mir macht das Unternehmen eine Ausnahme, ich bekomme eines von den wenigen „Notfall-Rädern".
Kurze Erklärung, wie ich das Essen am besten verstaue, damit nichts ausläuft, dann geht es los. Nils und ich schwingen uns auf die Räder, er in Radler-Outfit und mit Sport-Sonnenbrille, ich in kurzer Hose und T-Shirt. „Ganz schön hart, der Sattel", ist mein erster Gedanke als ich wir uns in Bewegung setzen. Zweiter Gedanke: „Ist der schnell." Ich fahre gerade los, da ist Nils schon 200 Meter weiter, auf der anderen Straßenseite. Ich hechele hinterher und frage mich, wie ich das durchhalten soll.
Das erste Ziel ist zum Glück nicht allzu weit entfernt, der Neuköllner Reuterplatz ist unser „Log-in-Platz". Hier melden wir uns mit Nils' Handy im System an und warten auf Aufträge. Sammelplätze wie diese gibt es in der ganzen Stadt, überall dort, wo die Restaurantdichte am größten ist.
Während er sich noch schnell eine Zigarette dreht, erzählt mir Nils von seiner IT-Ausbildung. „Ich hatte aber keine Lust auf einen Schreibtischjob", sagt er. Als Fahrradfan suchte er anschließend nach einer Möglichkeit, Hobby und Beruf zu vereinen. Jetzt mache er manchmal bis zu 70 Stunden die Woche als Kurierfahrer. Bezahlt wird er nach Leistung, fünf Euro pro Auftrag. Nils findet das fair, er komme auf einen Schnitt von 18 Euro die Stunde, erzählt er. Im Umkehrschluss bedeutet das: Je schneller er ist, desto mehr Geld verdient er. Ich sage ihm, er solle auf mich keine Rücksicht nehmen. Nils nimmt mich beim Wort.
Das Handy vibriert, der erste Auftrag ist da, jetzt wird es ernst. Nils fährt vor, ich komme kaum hinterher. Am Anfang ist es wie ein Rausch. Auf den Verkehr kann ich kaum achten, so sehr versuche ich an dem 22-Jährigen dranzubleiben. Meine Oberschenkel brennen. Wir rasen über große Hauptstraßen, drängeln uns an stehenden Autos vorbei, wer zuerst kommt, fährt zuerst. Leider weiß ich nicht, wo wir hinmüssen und Nils vergisst im Eifer des Gefechts mir Zeichen zu geben. Die erste scharfe Rechtskurve kriege ich noch gerade so. Schließlich kommen wir bei einem kleinen italienischen Restaurant an. Nils zückt sein Handy, gibt im System an, dass wir angekommen sind. Sowieso muss er jeden Arbeitsschritt dokumentieren. Auftrag annehmen, angekommen, bestätigt, abgeholt, wieder angekommen, diesmal beim Kunden, noch mal bestätigt und geliefert. Beim nächsten Auftrag alles wieder von vorn.
Nachdem ich die bestellte Pizza in meinem Würfel-Rucksack verstaut habe, sagt mir Nils, wo wir diese hinliefern müssen. „Das sind keine 500 Meter", sagt er. Ganz schön faul, der Besteller, denke ich. Aber der Kunde ist König und der König wohnt in einem Altbau im fünften Stock. Zwei Minuten später sind wir da, an das viele Treppensteigen hatte ich bisher nicht gedacht. „Sei höflich und wünsch ihm guten Appetit", ruft mir Nils im Treppenhaus hinterher. Das mache ich dann auch, zur Belohnung gibt es 1,50 Euro Trinkgeld. „Nicht schlecht", lobt mich mein Kollege. Dann geht es zurück zum Reuterplatz.
Dort warten mittlerweile vier weitere Kuriere auf Aufträge. Die Kollegen kennen und unterhalten sich, über ihre Aufträge, wie viele sie schon hatten und wie schnell sie unterwegs waren. Fahrradkurier sein ist nämlich nicht nur ein Job. Nein, es ist ein Wettbewerb. Auf ihren Handys haben die Fahrer Programme, mithilfe derer sie ihre Zeiten, Aufträge und Routen vergleichen können. Der Spitzenreiter in der Bestenliste ist derzeit ein Fahrradkurier aus Hamburg. Er ist 642,5 Kilometer in einer Woche gefahren, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 21 Kilometern pro Stunde. 7,1 Bestellungen in 60 Minuten, 55 Lieferungen an einem Tag, Rekord. Bei Nils und mir werden es am Ende knappe 19 Kilometer verteilt auf fünf Aufträge sein - in zwei Stunden. Aber so weit sind wir noch nicht.
Der nächste Auftrag, diesmal etwas weiter weg. Nils rast über Kreuzungen, als gäbe es kein Morgen mehr, ich hinterher. „Wenn jetzt einer von rechts kommt, dann hast du verloren." Dieser Gedanke kommt mir öfter. Aber es gilt: Hauptsache der Kunde bekommt sein warmes Essen.
Die meiste Angst bereiten mir jedoch die Autotüren. Häufig gibt es keine Radwege und wenn doch, dann führen sie auf der Straße direkt an der Parkbuchten vorbei. Hinzu kommen Fahrzeuge, die in der zweiten Reihen parken. Für Fahrradfahrer bleibt eine enge Schneise. Nicht auszumalen was passiert, wenn sich zur falschen Zeit eine Tür öffnet. „Das kommt schon vor", sagt Nils, „hin und wieder hört man das von Kollegen". Großartig, denke ich. „Wenn es brutal regnet und zu viele Leute bestellen", passierten häufiger Unfälle, weiß mein heutiger Kollege. Im Winter sei das aber noch deutlich schlimmer. Denn die Krux für Lieferdienste ist nun einmal die: Die Menschen bestellen vor allem bei schlechtem Wetter.
Mit Sonnenstrahlen im Gesicht und leicht verschwitzt kommen wir bei einem vietnamesischen Imbiss an. Menschen sitzen auf Plastikstühlen davor, essen Ente und trinken Bier. „Noch zwei Minuten" ruft uns der Wirt zu. Zeit zum Verschnaufen. Unser nächster Kunde hat dort eine Suppe und Salat bestellt. Beim Blick auf meinen Rucksack werde ich stutzig. Bei den vielen Bürgersteigen und Kopfsteinpflasterstraßen, ob Suppen da nicht schnell auslaufen? „Das passiert häufiger", antwortet mir Nils. Die Leute kriegten in diesen Fällen eine neue Lieferung oder ihr Geld zurück. Allerdings laufen auch andere Gerichte in dem Rucksack aus. „Wenn du den einmal mit Carbonara voll hast, ist da ein ganz schöner Gestank drin", schnauft Nils. Doch an diesem Tag geht alles gut, die Suppe kommt ebenso unbeschadet an wie alle anderen Gerichte. Der junge Herr, zu dem wir das Essen bringen, öffnet in Boxershorts die Tür, mehr trägt er nicht. Das sei nicht ungewöhnlich, erzählt Nils mit einem Schmunzeln. Teilweise hätten die Menschen keine Skrupel und öffneten splitterfasernackt die Türen. „Manche sind auch wirklich respektlos", sagt er.
Auf dem Rückweg zur Firmenzentrale merke ich, wie mich ein Gefühl der Erleichterung überkommt. Für Nils mag das der perfekte Job sein und das verstehe ich. Sport, Hobby und Beruf in einem - es ist gut, dass es Arbeitsplätze wie diese gibt. Nur eben nicht für mich. Als ich am Abend wieder zu Hause bin, überkommt mich der Hunger. Nach einem ereignisreichen Tag will ich die Wohnungstür heute nur noch von innen aufmachen. Mit schweren Beinen nehme ich eine halbe Stunde später das Essen des Fahrradkuriers entgegen - und bin ihm unendlich dankbar.
Voraussetzungen: Bei den beiden größten Lieferdiensten, Foodora und Deliveroo, müssen Bewerber mindestens 18 Jahre alt sein und eine Arbeitserlaubnis für Deutschland haben. Außerdem sollten sie ein internetfähiges Handy, Fahrrad oder Roller mitbringen. Beide Unternehmen bieten flexible Arbeitszeiten, zehn Stunden pro Woche ist man als Foodora-Fahrer allerdings mindestens auf dem Fahrrad unterwegs.
Lieferung: Bestellen können Kunden nach kurzer Registrierung über die Webseiten www.deliveroo.de oder www.foodora.de. Deliveroo liefert in Berlin beispielsweise zwischen 12 und 23 Uhr. Schon vor der Bestellung zeigt die Webseite die Lieferzeiten für die unterschiedlichen Restaurants an. Die Liefergebühren richten sich nach Bestellwert und Lieferdistanz.
Logistik: In Berlin werden per Fahrrad nicht nur Essen, sondern auch Pakete, Dokumente und Waren ausgeliefert. Lieferdienste sind unter anderem Messenger, Kurierkollektiv, Cosmo Kurier. Die Firmen betonen die umweltschonende Transportart.
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