"Das ist unser Alltag."
Danilo Campailla, Fotograf:
"Wer möchte den ganzen Winter campen? Die ganze Zeit."
Doch den Geflüchteten auf Lesbos bleibt keine Wahl. Seit Mitte Oktober gehören Starkregen, Stürme und überflutete Zelte zum Alltag im provisorischen Flüchtlingscamp Kara Tepe. Fast 7500 Menschen leben derzeit dort, ein Drittel davon sind Kinder.
Nie wieder Zustände wie in Moria: Mit diesem Ziel wurde nach der Feuer-Katastrophe im September das neue Übergangscamp Kara Tepe errichtet. Die Realität sieht anders aus: Es fehlt an Elektrizität, Lebensmitteln und Warmwasser. Die Menschen schlafen auf Geröll.
Danilo Campailla, Fotograf:
"Die ganze Nacht ist Lärm. Die Menschen können in den Zelten nicht ruhig schlafen. Wenn es nicht regnet, ist es an der Küste feucht. Die Kinder behalten diese Feuchtigkeit an sich. In dem Zelt gibt es nur zwei Stunden am Tag Strom, weil es nur einen Generator gibt. Es gibt keine Geschäfte, keine Parks, es gibt nichts. Die Camp-Bewohner dürfen aufgrund der Lockdown-Maßnahmen nur an einem Tag in der Woche für vier Stunden aus dem Camp. "
Für Amira ist das Realität. Die 21-jährige Afghanin lebt seit knapp anderthalb Jahren auf Lesbos. Erst in Moria, jetzt in Kara Tepe. Weil die Internetverbindung im Camp zu schlecht ist, redet Amira mit mir in der Wohnung einer Flüchtlingshelferin. Aus Angst vor den Behörden möchte sie unerkannt bleiben.
"Ein paar Toiletten sind nicht genug für tausende Menschen. Es ist nicht genug. Auf den Toiletten gibt es kein Klopapier und kein Wasser. Es ist wirklich schlimm. Wir sind drei Familien mit 7 Leuten in einem Zelt. Das Zelt hat zwei Schichten und eine Plane darüber. Es ist sehr schwierig, vor allem wenn es windig, stürmisch und regnerisch ist, warm zu bleiben."
Viele der Geflüchteten sind laut Hilfsorganisationen von den Umständen im Camp traumatisiert - vor allem Kinder und Jugendliche. Zu den häufigsten Erscheinungen gehören Schlafwandel, Panikattacken und Bettnässe.
"Kinder sind definitiv [von den Umständen] betroffen. Wenn sie [ihre Tochter] nachts schläft, wacht sie plötzlich auf und sagt, sie sieht Feuer. Dann hat sie Angst. Es beschäftigt die Kinder sehr stark. Als ich von dem vergewaltigten Mädchen gehört habe, hat mir das sehr wehgetan. Das waren die schlimmsten Nachrichten. Ich möchte die Situation den Leuten berichten, die weit weg von hier leben. Es war so hart für ihre Mutter und sie war erst 3 Jahre alt. Seitdem kann ich meine Tochter nicht mehr alleine rauslassen, um mit ihren Freunden zu spielen. Ihr Vater oder ich müssen immer bei ihr sein."
Auf Lesbos wurden laut Ärzte ohne Grenzen in diesem Jahr 49 Kinder mit Suizidgedanken oder nach Suizidversuchen behandelt. In der städtischen Kinderklinik stehen hundert Kinder und Jugendliche auf der Warteliste.
Thanasis Chirvatidis, Kinderpsychologe auf Lesbos
"Die schwersten Fälle von Kindern, die wir sehen, sind diejenigen, die isoliert sein wollen oder den Wunsch zum Ausdruck bringen, ihr Leben zu beenden. Sie wollen die ganze Zeit im Zelt sein, sie wollen keine Kontakte knüpfen und sie wollen tatsächlich sterben, um den Schmerz zu stoppen. Sie wollen aufhören, sich so zu fühlen."
Viele Hilfsorganisationen und Journalisten befürchten, dass das Flüchtlingslager wegen der Corona-Pandemie noch mehr abgeschottet wird. Es gibt seit Wochen kaum eine Möglichkeit in das Camp zu gelangen.
"Man kann versuchen, der Prozedur zu folgen, aber sie werden sagen: ,Es ist verboten, geh und sprich mit Athen'. Auf der Insel ist alles verboten. Der Hauptsatz ist: Es ist verboten. Und keiner gibt dir eine Erklärung."
Das Zeltlager Kara Tepe soll nur provisorisch sein. Doch ein neues Lager auf Lesbos ist erst für September 2021 angekündigt.
Amira, Geflüchtete "Es gibt viele Menschen, die unter diesen Bedingungen seit mehreren Jahren hier leben. Manche für zwei oder drei Jahre. Und trotzdem müssen sie hierbleiben."Danilo Campailla, Fotograf:
"Das erste, das passieren muss: Die Leute müssen aus dem Camp geholt werden, weil es inhuman ist. Sie können dort nicht bleiben. Und Europa muss handeln, weil Lesbos Teil von Europa ist. "
Die Realität in Kara Tepe, sie ist ernüchternd: Das Versprechen, dass nach der Brandkatastrophe von Moria kein neues Elendslager entsteht, wurde nicht eingehalten. Und der Winter hat gerade erst begonnen.