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Die Qualen der "Perle der Antillen"

Die Qualen der "Perle der Antillen"

Von einem Traumland der Karibik ist Haiti weit entfernt. Während sich auf der benachbarten Dominikanischen Republik Touristen tummeln, bestimmen Soldaten das Bild in der Hauptstadt Port-au-Prince.

(Foto: Marcello Casal Jr/ABr)

Es war ein Abschied, den nicht alle bedauerten. Mehrere Tausend Menschen hatten sich auf den Straßen der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince versammelt, um den Blauhelmen der Vereinten Nationen deutlich zu machen, wie wenig sie von ihrer Mission hielten. „Haut ab“, riefen einige Frauen, als die letzte Einheit am 15. Oktober 2017 das Land verließ. Auf Pappschildern forderten Demonstranten: „Keine weitere Vergewaltigungen“ und „Minustah gleich Cholera“.

Etwa 10 000 Soldaten, Polizisten und zivile Helfer sollten mit der Minustah genannten Mission zur Stabilisierung Haitis für mehr Sicherheit, stärkere Institutionen und rechtsstaatliche Verhältnisse in dem Karibikstaat sorgen. Doch ihr 13-jähriger Einsatz war von Skandalen begleitet: sexuelle Übergriffe,

Zudem schleppten nepalesische Soldaten die Cholera auf die Insel. Zwischen 8000 und 10 000 Menschen starben. Dass die UNO nur zögerlich über eine Entschädigung verhandelt, empört Anwalt Mario Joseph. „Stellen Sie sich vor, Nepalesen hätten die Krankheit nach Großbritannien gebracht“, sagt er.

Ausländische Einmischung – Fluch oder Segen? Diese Frage beschäftigt den Staat nicht erst seit 2004 die Vereinten Nationen Truppen in das ärmste Land Lateinamerikas gesendet haben, weil es im Chaos zu versinken drohte. Das Schicksal Haitis ist von internationaler Einflussnahme geprägt. Von 1915 bis 1934 hielten US-Truppen das Land besetzt, 1994 intervenierte Washington, um dem aus dem Amt geputschten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide wieder an die Macht zu verhelfen.

Doch eine unabhängige Entwicklung ist auch heute nicht in Sicht. Haiti hängt am Tropf internationaler Geldgeber: 80 Prozent der staatlichen Investitionen werden vom Ausland finanziert. Die erhoffte interne Demokratisierung kommt indes kaum voran. Jede Wahl seit Beginn der Mission war von Betrugsvorwürfen geprägt. 2011 gewann mit Michel Martelly ein rechter Politiker, der eine Nähe zu den Todeskommandos des langjährigen Diktators Jean-Claude Duvalier hatte. Der aktuelle Präsident und Agrarunternehmer Jovenel Moïse wiederum ist enger Vertrauter Martellys. Neben Wahlbetrug warf ihm die Opposition vor, Schmiergeld kassiert zu haben.

Es verwundert nicht, dass die Bevölkerung Politikern gemeinhin misstraut. 80 Prozent der Haitianer leben in Armut, ein Drittel ist ständig von Hunger bedroht, es fehlt an sauberem Trinkwasser, sechs von tausend Neugeborenen sterben. Daran hat keine Regierung etwas geändert. Woran sollten die Bürger glauben, wenn bei den Wahlen Stimmzettel von Menschen auftauchen, die beim Erdbeben gestorben sind? Wenn Schlägertruppen die Interessen der Mächtigen verteidigen? Wenn Präsidenten regelmäßig aus dem Amt geputscht werden oder ins Exil flüchten? Bei der Wahl des Staatschefs Moïse hatten sich gerade einmal 21 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt.

Nicht nur Misswirtschaft und Korruption, sondern auch das schwere Erdbeben von 2010, Stürme, Überschwemmungen und Dürren werfen das Land immer wieder aufs Neue zurück. Zuletzt fegte im Oktober 2016 der Hurrikan Matthew über Haiti. Mindestens 500 Personen starben, Tausende wurde obdachlos. Wieder zeigte sich, wie wenig die Regierung die Gesellschaft auf die Katastrophen vorbereitet. Notfallpläne funktionierten nicht, Hilfsgelder verschwanden. „Wir haben keine Politiker, die den Menschen Angebote machen“, kritisiert Edouard Paultre von der Nichtregierungsorganisation (NGO) Act Alliance und resümiert: „Haiti ist ein gescheiterter Staat.“

Die Zerstörung der Ressourcen nahm ihren Anfang jedoch vor Jahrhunderten. Seit Beginn der Kolonialisierung holzen die Haitianer die Bäume des einst von Wäldern überzogenen Landes ab. Nur vier Prozent des Waldes sind geblieben. Im Gegensatz zur Dominikanischen Republik erscheint Haiti wie eine kahlrasierte Steppe. Noch heute wird gefällt, um Holzkohle zu gewinnen. Doch wo die Bäume fehlen, kommt kein Regen. Und kommt er doch, reißen Sturzbäche ganze Dörfer in den Abgrund. Angesichts der Erosionen ist nur noch ein Drittel des Bodens landwirtschaftlich nutzbar.

Katastrophale Voraussetzungen für die vielen Kleinbauern, die für die eigene Küche – und wenn es gut läuft für den Markt – Kaffee, Mangos, Zucker, Kakao und auch wieder Bananen anbauen. Etwa 60 Prozent der Haitianer leben von dem Wenigen, was der Boden noch hergibt.

Vor allem aber das große Erdbeben setzt der einstigen „Perle der Antillen“ bis heute schwer zu. 35 Sekunden lang zitterte 2010 die Erde. 300 000 Menschen starben, 1,5 Millionen wurden obdachlos. Port-au-Prince lag in Trümmern. Obwohl Haiti als erdbebengefährdet galt, existierten weder die nötigen baulichen Auflagen noch die Maßnahmen zum Zivilschutz.

Wieder übernahmen internationale Hilfsorganisationen das Ruder. Etwa zehn Milliarden US-Dollar flossen nach Haiti, Mitarbeiter des Roten Kreuzes, der UNO und von NGOs bauten Notunterkünfte, verpflegten Verletzte und unterstützten den Wiederaufbau von Betrieben und Höfen. Doch auch diese Mission geriet in Kritik. Regierung und Bevölkerung seien nicht adäquat in die Hilfe einbezogen worden, erklärte der ehemalige stellvertretende UN-Minustah-Sonderbeauftragte Joel Boutroue. „Die von internationalen Geldgebern gesponserten NGOs scheren sich einen Dreck um den Willen des haitianischen Staates“, kritisiert er. Doch auch er weiß: Wer mit Haitis Politikern kooperiert, muss damit rechnen, dass nur das Wenigste dort ankommt, wo es gebraucht wird.