Eine Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung zeigt: Gewalt gegen Lehrer ist ein Problem in Baden-Württemberg. Doch noch immer gilt sie als Tabu-Thema. Wir haben mit betroffenen Lehrkräften gesprochen.
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Handarbeitsunterricht in einer zweiten Klasse der Johanniter-Grundschule in Heitersheim südlich von Freiburg. Die Lehrerin weist eine Schülerin zurecht. Sie solle leise sein und mit der Prickelnadel Formen ausstechen. Doch die Zweitklässlerin denkt gar nicht daran. Sie geht mit der Nadel auf ihre Lehrerin los. Rektor Dirk Lederle schildert die Situation ganz sachlich. „Was bringt es, das geheim zu halten?", sagt er und zuckt mit den Schultern.
Seit fünf Jahren ist er Leiter der Grund-, Werkreal- und Realschule in der 6000-Einwohner-Stadt Heitersheim. Er findet klare Worte: Ein Rektor, der behaupte, an seiner Schule gebe es keine Gewalt, „der muss lügen." Denn nicht nur die Gewalt von Schülern gegen ihre Klassenkameraden ist ein Problem, sondern zunehmend auch die Gewalt gegen Lehrer.
An fast der Hälfte aller Schulen in Baden-Württemberg sind Lehrkräfte von psychischer Gewalt betroffen. Das hat eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung, VBE, ergeben. Demnach gaben 45 Prozent der befragten Schulleiter an, dass es an ihrer Schule in den vergangenen fünf Jahren Fälle von psychischer Gewalt gegeben hat. Auch körperliche Gewalt gegen Lehrer ist kein Einzelfall, sondern kommt an jeder sechsten Schule in Baden-Württemberg vor. Bundesweit sogar an jeder vierten.
32 Prozent der körperlichen Gewalt findet dabei an Grundschulen statt, zwölf Prozent an Haupt-, Real- und Gesamtschulen. An Gymnasien ist der Wert mit vier Prozent eher gering. „Gewalt ist sehr subjektiv", sagt Gerhard Brand, Vorsitzender des VBE-Landesverbands Baden-Württemberg. „Wenn ein Zweitklässler seiner Lehrerin gegen das Schienbein tritt, ist das dann schon Gewalt? Für uns schon." Und dafür hat Brand eine einfache Begründung: „Wenn ein Zweitklässler treten darf, dann ist bei ihm später noch schlimmeres Verhalten möglich."
Lederle ist seit 25 Jahren Lehrer für Englisch, Bio und Chemie. Selbst wurde er noch nicht angegriffen oder beleidigt. Warum? Er zuckt mit den Schultern. Dann überlegt er, murmelt schließlich „Gerechtigkeit ist wichtig." Und fügt an: „Schüler haben ein Problem mit autoritärer Willkür." Immer wieder greifen einige von ihnen deshalb ihre Lehrer an.
Einer von Lederles früheren Lehrerkollegen an einer Schweizer Schule wurde von einem Schüler mit einer Waffe bedroht. „Ich war der Klassenlehrer des Jungen", berichtet Lederle. Er hätte ihm so ein Verhalten nicht zugetraut. Der Physiklehrer war im Anschluss lange Zeit krank - das Trauma hat ihn dienstunfähig gemacht. Und Lederle berichtet von noch mehr Fällen an seiner Schule. Ein Lehrer, der eine Schlägerei zwischen Schülern schlichten will und dann selbst geschlagen wird. Ein Vater, der auf den Lehrer seines Sohnes losgeht. Es folgt ein Polizeieinsatz.
Wie gehen Lehrkräfte damit um? „Das ist schwierig", erläutert Gerhard Brand vom VBE, er vergleicht den Vorgang mit der Gewalt gegen Polizeibeamte. Wenn ein Beamter körperlich angegriffen wird, meldet er das seinem Vorgesetzten und es gibt Konsequenzen. „Lehrer fragen sich zunächst ein mal: Was habe ich pädagogisch falsch gemacht?", sagt Brand. „Sie glauben: Jetzt habe ich als Pädagoge versagt."
Zudem gebe es eine große Hemmschwelle, um sich damit an Vorgesetzte zu wenden. „Erst, wenn es mal schlimmer ist, gehen sie tatsächlich zur Schulleitung", sagt Brand. „Das ist immer noch ein Tabu-Thema." Das Vertrauen in den Arbeitgeber spiele dabei eine große Rolle, so Brand: „Die Lehrer fühlen sich erst einmal allein gelassen." Sie bräuchten jemanden, der sie unterstütze: „Ich wünsche mir starke Schulleiter, die sagen: Ich lasse Sie nicht im Regen stehen."
Seit 19 Jahren arbeitet Frau B., die anonym bleiben möchte, als Deutsch- und Kunstlehrerin. „Ich habe an die Tafel geschrieben, als plötzlich ein Schwamm nach mir geworfen wurde", schildert sie ihre Erfahrung im Gespräch. Als „unangenehm" und „eine Situation, die im Gedächtnis bleibt" beschreibt die 47-Jährige ihr Erlebnis an einer Schule im Freiburger Umland. „Es gibt immer wieder verbale Übergriffe, wenn es zu Konflikten kommt. Meist ist so ein Verhalten ein Schrei nach Aufmerksamkeit."
Frauen treffe es dabei härter als Männer, berichtet sie. „Da ist man schneller mal die Bitch." In einem Gespräch mit einem Schüler, in dem es um sein Verhalten ging, hat er sie als solche bezeichnet. Er habe sich von ihrer Ansage provoziert gefühlt. „So etwas habe ich auch schon von anderen Kolleginnen mitbekommen." Gerade junge, attraktive Kolleginnen müssten sich im Schullalltag häufig sexistische Kommentare gefallen lassen.
Auch die heile Welt des Gymnasiums bröckelt. „Die Schüler sind selbstbewusster, das finde ich gut", sagt Frau B. Viele von ihnen könnten aber nicht mehr mit klaren Ansagen umgehen. Sie seien „verwöhnte Prinzen und Prinzessinnen", sagt sie. „Die Schüler kuschen nicht mehr so schnell, es kommt zum Machtkampf zwischen Lehrer und Schülern." Dem müssen die Lehrer gewachsen sein, doch die Ausbildung von Gymnasiallehrern sei eher fachlich orientiert. Wie sie mit schwierigen Situationen umgehen, müsse die Erfahrung lehren. Sie habe bereits erlebt, dass Referendare sich überfordert gefühlt und deshalb abgebrochen hätten. Auch für die erfahrene Lehrerin wurde die Belastung zu groß, sie ist derzeit in Therapie.
Der richtige Umgang mit Gewalt gehört nicht zur Ausbildung der Lehrer, wird im Schulalltag aber immer wichtiger. Das liege daran, dass sich die Schülerschaft verändert hätte, erklärt Rektor Dirk Lederle: „Immer mehr Schüler lösen Konflikte durch Gewalt." Trotzdem sei der Großteil von ihnen friedlich, nur zehn Prozent der Heitersheimer Schüler seien auffällig. Der häufigste Grund für die Gespräche als Rektor mit Schülern bleiben daher - noch immer - nicht gemachte Hausaufgaben.
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