Ende 20 zu sein bedeutet für mich vor allem eins: Angst vor dem zu haben, was als Nächstes kommt. Mein Studium neigt sich dem Ende zu, dahinter lauert das Berufsleben. Statt einer rosigen Zukunft eröffnet sich vor mir ein Abgrund voller Selbstzweifel. Werde ich einen Job finden? Habe ich mir den richtigen Beruf ausgesucht? Bin ich überhaupt gut genug?
Wenn ich mit meinen Freundinnen und Freunden spreche, stelle ich fest: Ich bin mit diesen Gedanken nicht allein, viele durchleben gerade dieselbe Krise. In der Wissenschaft gibt es dafür sogar einen Begriff: quarter-life crisis. Dagegen helfen soll ein Gespräch mit einer Mentorin oder einem Mentor, der sie überwunden hat - das zumindest empfehlen Psychotherapeuten.
Ein Gespräch mit Oma IngridAn wen könnte ich mich mit meinen Sorgen wenden? Mir fällt meine Oma Ingrid ein. Nach der Ausbildung arbeitete sie zunächst in einer Bank. Als sie 27 war - nur ein Jahr älter als ich heute - gründete sie dann ein eigenes Unternehmen, einen Getränkehandel. Heute ist meine Oma 76 und hat ihre Karriere lange hinter sich. Was kann ich von ihr lernen? Ich fahre zu ihr.
SPIEGEL: Oma, vor genau 60 Jahren standest du an dem Punkt, an dem ich jetzt stehe. Du hattest deine Ausbildung beendet und deine erste Stelle in einer Bank angetreten. Kannst du dich noch erinnern, wie sich der Berufseinstieg für dich angefühlt hat?
Ingrid W.: In der Bank musste ich gleich alles machen, Kunden betreuen, Abrechnungen schreiben. Das war einerseits gut, weil ich mich ausprobieren und Verantwortung übernehmen konnte. Andererseits fühlte es sich an, als würde ich ins kalte Wasser geworfen. Ich hatte Zweifel, ob ich den Job hinkriegen würde und dem Arbeitsleben schon gewachsen war.
SPIEGEL: Du hattest also auch Angst.
Ingrid W.: Klar! Das war mein allererster Job und ich war gerade mal 16. Ich wusste doch nicht, wie es in der Bank läuft. Mein Chef war viel unterwegs und ich auf mich allein gestellt. In den ersten Wochen passierte mir direkt ein Fehler: Einmal stimmte die Abrechnung am Ende des Tages nicht, weil ich in der Eile vergessen hatte, dass ein Kunde noch Geld abgehoben hatte. Abends musste ich noch mal alles mit dem Chef durchrechnen.
SPIEGEL: Wie hast du deine anfängliche Unsicherheit überwunden?
Ingrid W.: Indem ich einfach gemacht habe. Wie heißt das noch gleich - learning by doing. Mit der Zeit merkte ich, dass meine Selbstzweifel meist unbegründet waren. Und dass ich Fehler machen darf.
Was hilft gegen Selbstzweifel?SPIEGEL: Manchmal denke ich, dass ich meinen Job eigentlich gar nicht kann. Wie bist du von solchen Gedanken losgekommen?
Ingrid W.: Ich habe versucht, selbstbewusst zu sein und überzeugt von dem, was ich offensichtlich konnte. Mein Chef, die Kolleginnen und Kunden waren doch zufrieden mit mir und meiner Arbeit. Warum sollte ich es also nicht sein? Manchmal hilft es, sich daran zu erinnern, dass man seinen Job gut macht.
SPIEGEL: Du meinst, wir sollten uns eher so sehen, wie andere uns sehen?
Ingrid W.: Mir hat das zumindest beim Jobeinstieg Mut gemacht.
SPIEGEL: Deinen ersten Job in der Bank hat dir dein Vater besorgt.
Ingrid W.: Stimmt. Für ihn stand außer Frage, dass ich arbeiten und mein eigenes Geld verdienen sollte. Mein Vater war es auch, der mich auf die Mittlere Handelsschule geschickt hatte, damit ich dort kaufmännisch ausgebildet werde. Am Gymnasium gab es die Fächer Buchführung, kaufmännisches Rechnen, Stenografie und Schriftführung nicht. Das sollte ich lernen, fand er. Nach dem Abschluss konnte ich bei einem seiner Bekannten in der Bank anfangen. Die hatten gerade eine Stelle frei - und ich ein gutes Zeugnis. Das machte meinen Vater mächtig stolz, und mich natürlich auch.
SPIEGEL: Für mich war es selbstverständlich, mir meinen Job auszusuchen. Hättest du dir nicht auch gewünscht, selbst zu entscheiden, was du beruflich machst?
Ingrid W.: Damals nicht. Ich war froh, nicht als Hauswirtschafterin arbeiten zu müssen. Meine ältere Schwester ging bei einem Pastor in Stellung, so nannte man das, sie übernahm den Haushalt und die Kinder. Dass ich in der Bank arbeiten durfte, fühlte sich für mich an wie ein Glücksgriff. Die Zeit war eine andere: Wir haben uns nicht überlegt, was wir beruflich machen wollten - ich hatte keinen Traumjob oder so etwas. Ich war einfach froh, Geld zu verdienen. Später änderte sich das allerdings, als ich mich mit deinem Opa selbstständig machte.
Etwas Eigenes aufbauenSPIEGEL: 1971 meldeten Opa Bernd und du euren Getränkehandel an. Weil er da noch als Bierbrauer arbeitete, lief das Geschäft auf deinen Namen. Warum habt ihr euch damals selbstständig gemacht?
Ingrid W.: Wir hatten zu der Zeit schon drei kleine Kinder und ein Haus. Opa Bernd verdiente zwar noch Geld in der Brauerei, aber die sollte bald dichtmachen. Auch ich hatte meinen Job in der Bank nicht mehr - nach knapp vier Jahren hatte ich dort aufgehört, weil ich mich um die Kinder kümmern musste. Das wollte dein Opa damals so, heute würde ich mir das wohl nicht mehr gefallen lassen. Dass wir den Getränkehandel gründeten, hatte also zunächst finanzielle Gründe. Aber nicht nur: Wir wollten auch etwas aufbauen, uns beruflich verwirklichen.
SPIEGEL: Warum war dir Selbstverwirklichung im Job auf einmal wichtig?
Ingrid W.: Dein Opa hat seinen Job als Bierbrauer geliebt.Vorher hatte ich nie erlebt, dass jemand so für seinen Job brannte. Mit Bernd träumte ich davon, mein eigenes Ding zu machen. Der Getränkehandel war unser gemeinsames Projekt: Ich übernahm den kaufmännischen Part, hatte die Finanzen im Blick und regelte den Verkauf, dein Opa knüpfte Kontakte zu Gastronomen, plante die Routen und lieferte die Getränke später auch aus.
SPIEGEL: Der Handel wurde schnell größer, ihr musstet investieren, Lagerflächen anmieten und Leute einstellen. Hattet ihr keine Sorge, zu scheitern?
Ingrid W.: Wir mussten wachsen und das Sortiment ausweiten, um mit der Konkurrenz mitzuhalten. Klar hatten wir manchmal Angst vor dem Scheitern, aber dann haben wir durchgehalten.Oft waren wir kaputt oder müde, wenn etwa mal wieder jemand Rechnungen nicht bezahlte. Doch das Geschäft machte uns Spaß, wir steckten unser Herzblut hinein und wollten es unbedingt auch noch die nächsten 30 Jahre schaffen.
SPIEGEL: Obwohl eure Zukunft unsicher war, habt ihr euren Traum durchgezogen. Das bewundere ich.
Ingrid W.: Vielleicht sollte man nicht zu viel über das Scheitern nachdenken, sondern einfach weitermachen - oder irgendwo anfangen.
SPIEGEL: Ihr habt euren Laden tatsächlich bis zur Rente geführt. So etwas ist heute nicht mehr üblich, gerade Berufseinsteiger bekommen oft nur befristete Verträge.
Ingrid W.: Das stimmt, heute behält fast niemand seinen Beruf ein Leben lang oder arbeitet für nur eine Firma. Das hat aber auch Vorteile: Wenn ich damals in der Bank geblieben wäre, hätten wir unseren Getränkehandel womöglich nicht gegründet.
Selbstbewusst sein, auch in der KriseSPIEGEL: Du findest also, ich sollte entspannter sein - auch wenn ich jetzt in der Coronakrise keinen Job finde?
Ingrid W.: Ihr jungen Frauen müsstet doch heutzutage ein ganz anderes Selbstverständnis haben als ich vor 60 Jahren. Das mag banal klingen, aber geht das Berufsleben doch selbstbewusster an: Die meisten haben einen Uniabschluss und dazu Praktika gemacht, waren im Ausland, sind unabhängig. Eine Krise ändert erst mal nichts daran. Erinnert euch an das, was ihr bereits gemacht habt und könnt.
SPIEGEL: Wenn du deine Karriere noch mal von vorn beginnen könntest, würdest du etwas anders machen?
Ingrid W.: Ich will ja gar nicht mehr arbeiten! Und von Karriere hat erst recht niemand gesprochen damals, das war einfach unser Leben. Aber nein, ich denke, ich würde es wieder so machen.
Was gegen Zukunftsangst hilftMeine Oma Ingrid um Rat zu fragen, war eine gute Idee, denke ich auf dem Heimweg. Sie hat mir vier Tipps gegen Zukunftsangst mitgegeben:
- mich selbst und meine Arbeit öfter durch die Augen anderer betrachten,
- an meinem Traumjob festhalten,
- nicht zu viel über das Scheitern nachdenken,
- im Blick behalten, was ich schon erreicht habe.
Und dann ist da noch die Gewissheit, dass es irgendwann besser wird. Eine Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass unser Stresslevel nie mehr so plötzlich ansteige wie in den späten Zwanzigern - und mit der Rente wieder sinke. Das kann meine Oma so bestätigen.
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