Ein Lehrbuch für Hitler: 1912 erschien in Leipzig Heinrich Claß' antisemitischer Bestseller "Wenn ich der Kaiser wär'".
Eine Gesundung unseres Volkslebens, und zwar aller seiner Gebiete, kulturell, moralisch, politisch, wirtschaftlich, [...] ist nur möglich, wenn der jüdische Einfluß entweder ganz ausgeschaltet oder auf das Maß des Erträglichen, Ungefährlichen zurückgeschraubt wird." Der Autor hatte offensichtlich keine Zweifel, wer für die Misere der Gegenwart, ihre "moralische Entartung" und den "Raubbau an Rassekraft und Volksgesundheit" verantwortlich sein musste.
Doch auch wenn mit den Juden die Schuldigen für die Verstädterung und Proletarisierung, den verderblichen Einfluss der Massenmedien, für das unheilvolle Wirken von Warenhäusern und Banken gefunden schienen, so war die Rettung nicht einfach. Liberale Reformen hatten es dem Feind ermöglicht, sich in die Reihen der Deutschen zu schleichen. Seine Identifizierung müsse "mit Härte" vollzogen werden, "indem man zwar den Glauben als ursprüngliches Erkennungszeichen ansieht, aber die Rassenangehörigkeit ins Auge faßt und auch den vom jüdischen Glauben Abgewandten als Juden behandelt", ja selbst "die Nachkommen von Mischehen" verfolge.
Diese paranoide Fantasie von der Zersetzung des Deutschen Reiches durch jüdisches Blut stammt nicht aus einer nationalsozialistischen Quelle, sondern aus einem Bestseller des Jahres 1912. Wenn ich der Kaiser wär' - Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten ist das 235 Seiten starke Thesenbuch eines Autors, der sich Daniel Frymann nennt, erschienen in der ehrwürdigen Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung, Leipzig. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges erlebt es fünf Auflagen (1914 geht es ins 25.Tausend) - weitere folgen.
Hinter dem Pseudonym verbirgt sich der Mainzer Anwalt Heinrich Claß. Geboren 1868 in Alzey bei Worms, wächst er in einer liberalen protestantischen Juristenfamilie auf. Nach dem Studium, vor allem in Berlin, und dem Staatsexamen in Mainz tummelt er sich bald in völkischen Kreisen. 1897 tritt er dem Alldeutschen Verband (ADV) bei, dessen Vorsitz er elf Jahre später übernimmt und den er von Berlin aus bis 1939 führt. Nach 1945 lebt er in Jena (ganz unbehelligt von der Obrigkeit der DDR), wo er 1953 auch stirbt. Claß sollte die Alldeutschen in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik zu einem antisemitischen Kampfbund machen - und selber zu einem der "Lehrer Hitlers" werden, wie es der Potsdamer Historiker Johannes Leicht formuliert, der Claß jüngst eine Biografie gewidmet hat.
Dabei ist der Alldeutsche Verband zunächst nur eine von vielen nationalistischen Organisationen, die im Reich eine immer stärkere Rolle spielen (und in denen selbstverständlich auch jüdische Deutsche Mitglied sind). Es gibt Krieger-, Flotten-, "Ost"- und Kolonialvereine. Bei der Radikalisierung der Altkonservativen zu einer modernen populistischen Rechten sind sie wesentliche Stationen. Ihre aggressiven Forderungen - vor allem nach "deutscher Weltgeltung" - bestimmen zunehmend die politische Agenda.
Für den Schleswiger Historiker Rainer Hering, Autor einer Geschichte des ADV, ist der 1891 in Berlin gegründete Verband die "Sammlungsbewegung für alle, die mit der ›lauen‹ Regierungspolitik unzufrieden waren". Schon nach kurzer Zeit zählt man 21.000 Mitglieder und verfügt mit den Alldeutschen Blättern über eine einflussreiche Zeitschrift.
Organisationen wie der ADV agieren zwar in diskreter Abstimmung mit den Behörden, die sich eine propagandistische Begleitmusik zur Hochrüstung durchaus wünschen. Aber nicht immer lassen sich die entfesselten Leidenschaften kontrollieren. Oft eskalieren die Kampagnen der "Nationalen Opposition" regelrecht - bis hin zu außenpolitischen Krisen. So setzt der Protest nationalistischer Kräfte gegen das deutsche "Zurückweichen" in der zweiten Marokkokrise 1911 die Diplomatie gewaltig unter Druck. Deutsche Zeitungen führen im Zusammenspiel mit ihren britischen Antagonisten wahre Pressekriege.