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Literarische Stimmen 2.0 - Praxis

Mitten in Kreuzkölln in Berlin arbeitet seit einem halben Jahr Emilia von Senger an einer queer-feministischen Buchhandlung. Im Herbst soll sie eröffnen und steht in der Tradition sogenannter Frauenbuchhandlungen, die ihre Blütezeit in den 70er Jahren hatten.

Von außen lässt sich nicht viel erkennen, denn die großen Schaufenster am Kottbusser Damm 79 sind noch mit dunkler Folie beklebt. Über der Eingangstür hängen Stromkabel aus der Wand. Nur ab und zu öffnet sich die Tür, wenn Handwerker aus dem Ladengeschäft kommen. Noch lässt sich kaum erahnen, dass hier an der Grenze von Kreuzberg zu Neukölln, wo sich türkische Imbisse, Edeka und ein Späti kreuzen, in wenigen Monaten ein Buchladen eröffnen wird. Und zwar nicht irgendein Buchladen, sondern ein queer-feministischer.

„Hier soll es hauptsächlich Bücher von Frauen und queeren Autor*innen geben", erzählt Emilia von Senger. Die 32-jährige Berlinerin arbeitete zunächst in einem Kiezbuchladen in Friedrichshain, fing 2018 an, über ihre Lieblingsbücher zu bloggen und wird nun die neuen Autor*innenbuchhandlung mit dem Namen She Said eröffnen. Der Namen She Said kam ihr in den Sinn, nachdem sie das 2018 im Hanser-Verlag erschienene Werk Sagte Sie. 17 Geschichten über Sex und Macht, eine Anthologie weiblicher literarischer Stimmen von Lina Muzur, gelesen hatte. Im Vorwort wird die Redewendung „He said, She said" erläutert, die im Englischen benutzt wird, wenn eine Geschichte von zwei Personen sehr unterschiedlich wiedergegeben wird. „Dann gibt es zwei Versionen einer Geschichte", sagt Emilia. „Es kann aber gut sein, dass wir zu lange nur seiner Version der Geschichte, also der männlichen, zugehört haben. Das hat bei mir einen Nerv getroffen." Den Traum, eine Buchhandlung zu eröffnen, hatte Emilia schon lange. Hinzu kam nun die Idee, eine Buchhandlung zu führen, die vor allem Autor*innen sichtbarer werden lässt, deren Lebensentwürfe von der Mehrheitsgesellschaft noch nicht akzeptiert werden. Schließlich sei es immer noch so, dass Literatur von Frauen bzw. Queers weniger gelesen wird und sie gleichzeitig schneller in Vergessenheit gerät, fügt sie hinzu.

Auf über 130 Quadratmetern Verkaufs- und Caféfläche sollen Kund*innen bei She Said die Möglichkeit haben, Bücher von Frauen und queeren Menschen zu entdecken. Die Buchhandlung besteht aus einem großen, offenen Raum mit anknüpfendem Café, das auch als Ort des Austausches dienen soll. Eventuell wird es im Sortiment des Buchladens sogar den ein oder anderen Roman von einem Mann geben: „Ein Buch über toxische Männlichkeit könnte beispielsweise ein großer Mehrwert sein in der Auseinandersetzung mit der Frage, was für Rollen Geschlechter haben und wie man diesen Rollen entgehen kann", sagt Emilia. Da wo jetzt noch Wände verputzt und Elektrik verlegt wird, soll bald ein großer runder Holztisch mit den Neuerscheinung stehen, die ausschließlich von weiblichen und queeren Autor*innen stammen. Außerdem soll es ein eigenes Regal für englischsprachige Fiktion geben und auch einige französische Bücher wird Emilia im Sortiment haben.

Einen Autorinnenbuchladen, wie ihn Emilia plant, gibt es derzeit nicht in Berlin. Neu ist das Konzept dennoch nicht: Die ersten reinen Frauenbuchläden sind im Zuge der Frauenbewegung 1974 in Frankreich entstanden. Das waren Läden, in denen Bücher nur an Frauen verkauft wurden. Neben dem Verkauf sollten diese Läden vor allem Orte der Vernetzung mit feministischen Ansätzen sein: Frauen konnten hier zusammenkommen, um sich auszutauschen, um sich bewusst zu werden, wie sehr ihr Denken und Handeln von männlichen Werten geprägt ist. Auch die Solidarität von Frauen sollte hier gefördert werden. Eine treibende Kraft waren Gruppen von lesbischen Frauen, die andere Perspektiven in die feministischen Diskussionen mit einbrachten. „Die Buchläden fungierten auch als eine Art Schutzraum für diejenigen unter ihnen, die psychologische Beratung benötigten, beispielsweise im Bereich von Missbrauch", erklärt Andrea Gollbach, Leiterin von Lillemors Frauenbuchladen in München. Die Anwesenheit von Männern wurde daher als problematisch empfunden. Ihnen wurde der Zutritt zu den Buchläden zunächst verweigert.

Gollbach vergleicht das Konzept gerne mit Parteitagen: „Die Grünen würden auch nicht die CDU zu ihrem Parteitag einladen", sagt sie. „Es geht ihnen ja darum, Ziele abzustecken, sich abzustimmen, eine gemeinsame Richtung zu finden. Und das galt auch für die Frauenbewegung Mitte der 70er bis lang in die 90er. Sie wollten ihr eigenes Ding machen und dazu sollten Männer eben keinen Zutritt haben."

Lillermors Frauenbuchladen wurde 1975 eröffnet und war der erste ihrer Art in Westdeutschlands. „Allein durch die Tatsache, dass es uns heute als Buchladen noch gibt, haben wir einen Sonderstatus", erzählt Andrea Gollbach. Seit 1982 verkauft sie mit ihrer Kollegin Ursula Neubauer Bücher von Autorinnen, feministische Literatur, und Sachbücher mit frauenspezifischen Inhalten, wie beispielsweise Beruf, Politik, Gesundheit oder Mutterschaft.

Zur Anfangszeit gab es in Lillemors Frauenbuchladen nur um die 30 Titel im Sortiment. Andrea Gollbach erklärt am Telefon: „1975 war der Begriff Frauenliteratur eigentlich noch überhaupt nicht existent. Den haben wir als Frauenbewegung mitgeprägt." Der Markt dafür vergrößerte sich aber schnell und so gründeten sich aus der Frauenbewegung auch Verlage, wie Frauenoffensive in München oder Orlanda in Berlin. Sie gaben Frauen die Möglichkeit, feministische Themen zu publizieren, was bei etablierten Verlagen oft nicht möglich war. So fand das Konzept der Frauenbuchläden schnell Anklang und bald wurde in jeder größeren Stadt Deutschlands ein Frauenbuchladen eröffnet.

Mittlerweile mussten die meisten von ihnen schließen - ca fünf gibt es noch in Deutschland. Das hat zum einen mit der finanziellen Lage zu tun, zum anderen findet die radikale räumliche Trennung von Männern und Frauen heute keine Basis mehr: nicht Binarität, sondern die Auflösung von Geschlechtergrenzen ist das eigentliche Ziel. Daher sollen bewusst auch Männer und an queer-Feminismus-Interessierte angesprochen werden.

Noch gibt es viel aufzuholen, findet Andrea Gollbach: Der Literaturkanon sei nach wie vor Männern dominiert, Schriftstellerinnen würden nach wie vor weniger gewürdigt als ihre Kollegen und weibliche Themen wie Sichtweisen weniger ernst genommen. Und das fange oft schon bei Kinderbüchern an: „Wenn eine Frau in den Buchladen kommt und ein Kinderbuch sucht, weil sie auf einem Geburtstag von einem Zweijährigen eingeladen ist, dann gebe ich ihr ein Buch über ein Mädchen. Und manchmal kommt es vor, dass sie meinen, dieses Buch sei nicht so geeignet, weil das Geschenk ja für einen Jungen ist", erzählt die Münchnerin.

Heute werden glücklicherweise eine Reihe von Autorinnen wiederentdeckt, die zu ihrer Zeit erfolgreich waren, aber nie als ernst zu nehmende Literatur befunden worden sind, weil sie über ihre eigene Lebenswelt geschrieben haben, die sich oft Zuhause mit den Kindern abspielte. Da wäre zum Beispiel die US-amerikanische Schriftstellerin Fran Ross. In ihrem Roman Oreo, der 1974 zum ersten Mal in den USA veröffentlicht wurde, macht sich die 15-jährige Protagonistin, die wie die Autorin selbst eine schwarze Mutter und einen jüdischen Vater hat, auf die Suche nach ihrem verschwundenen Vater. 2015 wurde Oreo in den USA neu gedruckt, ist kürzlich auch mit großen Erfolg auf Deutsch erschienen und gilt nun als wichtiger Beitrag zur Wiederentdeckung von Literaturklassikern.

In Anlehnung an die Frauenbuchläden der 70er Jahre nennt Emilia von Senger ihr Konzept „Frauenbuchhandlung 2.0", denn She Said soll ein Ort werden, an dem jede*r, egal ob Frau, Mann oder non-binary, neue Autor*innen kennenlernt. Dass das auch heute, 45 Jahre nach Eröffnung der ersten Frauenbuchhandlung, wichtig ist, sieht man an den Schulen. Auch hier sind Bücher von Frauen oder Queers Mangelware: Man hält sich an den Kanon, liest Goethe, Kafka, vielleicht Fontane oder Frisch und macht sich als junge*r Schüler*in vielleicht gar keine Gedanken darüber, dass das nur heterosexuelle, weiße Autoren sind. Dabei können Bücher von Frauen und queeren Menschen, die über ihr Leben schreiben, über körperliche oder psychische Schmerzen, über Traumata oder Benachteiligungen, uns helfen, ihre Perspektiven wahrzunehmen und unsere Vorstellungen von der Welt zu erweitern. Und vielleicht kann Emilias Autor*innen-Buchhandlung zu einem Ort werden, an dem wir finden, was uns in der Literatur bisher, ohne dass wir es wussten, noch fehlte.

Die Buchhandlung She Said eröffnet Ende des Jahres am Kottbusser Damm 79.

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