Globales Signal: Das Reeperbahn Festival hat die Mission, die Livemusik-Branche und Clubs zu retten. Diesmal haben Stadt und Bund einen Rekordzuschuss beigesteuert.
Gerade erst hatte Constantin von Twickel den von roten Ziegelsteinen gewärmten Club „Nochtspeicher", der einst dreihundert schwitzende Menschen fasste, in einen Kabarett-Club mit 48 Sitzplätzen verwandelt. Schon rückte er ins Zentrum einer Kabarett-Kontroverse: Weil die Österreicherin Lisa Eckhart hier von einem Literatur-Festival ausgeladen wurde, wünschten ihre Fans dem Nochtspeicher am Telefon den Tod. Vor diesem bewahrt den Club ohnehin nur ein staatliches Rettungsprogramm, das im Dezember ausläuft.
Beim Reeperbahn Festival, das vergangene Woche in Hamburg stattfand, musste sich der Club neu erfinden, um trotz Corona- und Kabarett-Krise zu überleben. „Wir werden immer als die Party-Leute abgestempelt", sagte von Twickel. Jetzt galt es, sich in einem neuen Kontext zu präsentieren: Erstens als gepflegte Sitz-Location. Und zweitens als ein aufrechter Partner für ein viertägiges Livemusik-Event, das mit seinen strengen Hygieneauflagen eine Pionierrolle einnimmt. An jedem Spielort des Reeperbahn Festivals checkte man mit einem QR-Code ein und aus, „Hopping" war diesmal nicht möglich. Entweder wurde man in der Schlange vom knallharten Türsteher abgewiesen - oder dahinter von einer piekfeinen Person bis an den zugewiesenen Stuhl (nicht Tisch) geführt. Zwei Clubs, die sich der Auflagen verweigerten, schieden vorab aus.
Der Michel ist kein Sänger, hat aber FansDie anderen sieben Clubs, die das diesjährige Festival bestritten, und die Stadt Hamburg sind voneinander abhängig. Das schützt vor einer Benachteiligung gegenüber den staatlichen Kulturhäusern. Bisher konnten sich die Clubs auf das internationale Prestige des 2006 gegründeten Festivals berufen - die „Berlinale und Frankfurter Buchmesse der Musikbranche", wie Kultursenator Carsten Brosda sagt -, um gegen eine Gentrifizierung des Stadtteils St. Pauli einzutreten. Denn ohne Clubs wäre das Event nicht denkbar. Die Open-Air-Bühnen, die es auf dem Spielbudenplatz und im „Festival-Village" gab, sind hier nicht die Hauptsache. Stadt und Bund unterstützten die diesjährige Ausgabe deshalb mit einem erhöhten Zuschuss von 1,9 Millionen Euro, was drei Vierteln des Etats entsprach. Nach je 50 000 Besuchern in den Vorjahren kamen in diesem Jahr immerhin achttausend und verteilten sich auf die Spielstätten. Diese dezentrale Struktur wurde zur besonderen Stärke. Zusätzlich schoben sich im Nochtspeicher noch Kamerateams zwischen den Tischen hindurch, um ausgewählte Konzerte auch online zu streamen. Die Videos und die digitale Fachkonferenz wurden aus 37 Ländern abgerufen.
In der Kirche Sankt Michaelis, dem größten Auftrittsort, war ein gutes Zehntel der 2500 Plätze mit Stickern freigegeben, selbst einnehmen durfte man sie nicht. Ältere Damen aus der Gemeinde, alle mit goldenen Kreuzketten, führten die langwierige Einlasszeremonie durch. „Wir brennen für den Michel", sagte eine von ihnen zur Erklärung. Ohne seine treuen Fans stünde auch das große Haus aus roten Ziegeln vor dem Ruin. Dem Gold und Marmor im Kirchenschiff ist es nicht anzusehen, doch 85 Prozent ihres Budgets nimmt die Gemeinde Sankt Michaelis von Besuchern und jetzt über Spenden ein.
Erst gegängelt, dann zur Rebellion aufgestacheltEntsprechend dankbar empfing man hier sieben Acts des Festivals; zum Beispiel die seit dreißig Jahren aktive Hamburger Band Die Sterne. Bei den Titeln ihres neuen Albums war mal die Realität („Der Palast ist leer") und mal der Wunsch („Du musst gar nix") Vater des Gedankens. Andere Botschaften richteten sich nur an Eingeweihte („Der Arsch ist die Message"). Frontmann Frank Spilker, der nicht erst für die barocke Kirche eine Puderperücke trägt, genoss das Echo seiner Stimme. Im grandios sarkastischen Lied „Was hat dich bloß so ruiniert?" forderte das sakrale Keyboard die fünf Orgeln heraus. Die Antwort, die unter dem Kruzifix geschmettert wurde, lautete: „Dass sie nicht zuhören wollten? Oder nichts glauben? Wollten sie die Wahrheit rauben?" Der Kontrast zwischen Gassenhauern und Gotteshaus war sehr ergreifend: Wie andächtig dieses Publikum, das eben noch gegängelt und jetzt schon wieder zur Rebellion aufgestachelt wurde, zwischen elektrischen Kerzen und blauen Scheinwerferkegeln lauschte.
Im Nochtspeicher löste so viel Ehrfurcht nur die Jury des „Anchor Awards“ aus, der das ehemalige „Spice Girl“ Melanie C angehörte. Als Einzige, die aus Übersee anreisen durfte, zog sie die Handykameras auf sich. Ansonsten mussten die Nominierten für den Newcomer-Musikpreis des Festivals den internationalen Geist bewahren: Eefje de Visser aus den Niederlanden, Suzane aus Frankreich, Tuvaband aus Norwegen und Arya Zappa aus Berlin. Fast absehbar war der Sieg des Dresdner Indietronic-Duos Ätna. Nicht weil Inéz Schaefer und Demian Kappenstein den vier Solokünstlerinnen zahlenmäßig überlegen waren. Sondern weil sie in dieser Runde von Singer-Songwritern die mit Abstand eingängigsten Lieder geschrieben hatten. „Made by Desire“, „Remission“ oder „Try“ könnten viel bekannter als bisher sein und werden es dank der Auszeichnung ja vielleicht.
Hamburg als Vorbild
Nachdem Ätna ihre Streaming-Konzerte und das Schaulaufen vor der Jury absolviert hatten, gaben sie sich bei ihrem letzten Auftritt ganz privat. Im unterirdischen „Mojo Club“ strahlten die beiden in Weiß gekleidet bis in die letzte Reihe und zu der kleinen Loge des Clubs hoch. Sie verrieten, wem einzelne Songs gewidmet seien, probierten neues Material aus (Kappenstein baut seine Beats wie ein verrückter Wissenschaftler und mischt auch mal das sentimentale Geräusch eines Winnie-Puuh-Spielzeugs darunter) und luden umgekehrt das Publikum zu Experimenten ein: Dem Aufruf, wenigstens im Sitzen zu tanzen, folgten die meisten mit extravaganten Armbewegungen wie beim Voguing. Das beste Vorbild dafür ist Schaefer selbst, die zwar von Keyboard und Synthesizer gerahmt sitzt, aber dort an Präsenz nicht zu übertreffen ist; weil sie sich wie eine Schlange vor und zurück bewegt, um Kappenstein immer wieder anzufeixen und um ihre gewaltige Stimme am Mikrofon zu dosieren.
Bild: Inferno Events/Stephan Wallocha
Bei der Verleihung wirkte die Mission, die sich das Reeperbahn Festival gegeben hatte, dann sehr angestrengt. Nach jeder technischen Panne musste die Realität zurückgespult werden, um eine reibungslose Aufnahme für den Stream zu bekommen. Nicht den wenigen im St. Pauli Theater, sondern der ganzen Welt wollte man zeigen, wie es geht. Juror und David-Bowie-Produzent Tony Visconti, live und lebensgroß aus Manhattan zugeschaltet – zwar vor weißem Hintergrund, aber mit einer zweiten Leinwand wieder vor die New Yorker Skyline gesetzt –, las sein hohes Lob auf das Festival mit starrem Blick vom Papier ab. Die Signalwirkung ist natürlich kalkuliert: Folgen andere Veranstalter Hamburgs Vorbild, ließen sich auch Tourneen wieder buchen.
Und ist das Lob nicht gerechtfertigt? Vielleicht mit Ausnahme der Regel „einander Fremde werden grundsätzlich nicht zusammengesetzt“, die auf der Website stand und überall missachtet wurde, war die Disziplin von Personal und Gästen enorm. Umgeben von Reeperbahn-Kneipen, in denen die Covid-Auflagen mit Füßen getreten wurden, hielt das Festival stolz an seinem Vertrag mit der Gesellschaft fest und zeigte, wie ernst es den vermeintlichen „Party-Leuten“ um ihre Branche ist. Allen konnte man es eh nicht recht machen: Die Soundchecks auf der großen Bühne am Spielbudenplatz wurden, wie seit jeher üblich, vor einem leeren, abgesperrten Platz gespielt. Der Anblick erntete aber jedes Mal den Spott vorbeilaufender Touristen, die glaubten, das Resultat einer verfehlten Pandemie-Politik zu sehen.
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