0 subscriptions and 0 subscribers
Interview

„Abbilden, was die Realität der Menschen vor Ort ausmacht“

Der Blick auf Liebe und Begehren in Nordafrika ist klischeebehaftet, sagt der politische Reporter Mohamed Amjahid. Nun will er mit Let’s Talk About Sex, Habibi die Perspektive wechseln. Im Interview spricht Mohamed über die Idee hinter dem neuen Buch, Schönheitsideale und seine Erfahrungen mit europäischen Sextouristen.

Mohamed, im Bio-Unterricht in Marokko hast du deiner Schulklasse einmal mit einer Banane demonstriert, wie man richtig verhütet. Trotzdem gab der Lehrer dir nur 18 von 20 möglichen Punkten. Ärgert dich das heute noch?

In der Schule war ich ein kleiner Streber, gute Noten waren mir sehr wichtig. Gleichzeitig wollte ich immer ein bisschen provozieren, deswegen bin ich auch Journalist geworden. Als wir Referate halten sollten, habe ich mir deshalb natürlich die Themen Reproduktion und Verhütung geschnappt. Ich wollte das aber anders machen als im konservativen Buch, deswegen bin ich mit Banane und mit Kondom bewaffnet zum Unterricht erschienen.

Im Buch beschreibe ich, wie intensiv das war, die ganze Klasse hat gejohlt! Und der Lehrer, super konservativ, ist wirklich direkt rot angelaufen und dann irgendwann auch aus dem Klassenraum raus gegangen. Danach hat er mir 18 Punkte gegeben, dabei hatte ich damals schon mit 20 gerechnet. Ich meine, ich habe eine Banane mitgebracht! Aber ich habe das sehr gut verarbeitet.

Warum müssen wir in Deutschland unseren Blick auf Liebe und Begehren in Nordafrika hinterfragen?

Mit Blick auf Körperlichkeit gibt es diese komischen Bilder: Menschen in Nordafrika hätten entweder gar keinen Sex oder den ganzen Tag nur Sex. Eins von beiden kann ja nicht stimmen! Es gibt sehr viel Unwissen, viele Leute hierzulande sprechen gern über die anderen, ohne sich zu informieren. Das muss sich ändern! Deswegen wollte ich die Perspektive umkehren und als Autor auf die vermeintlich anderen schauen.

Du sagst, dieses Wissensgefälle hat seinen Ursprung in kolonialen Strukturen.

Genau, im 18. und 19. Jahrhundert sind Anthropologen aus Europa nach Nordafrika gereist, um die vermeintlich exotischen Gesellschaften zu analysieren. Dieses Wissen hat sich verstetigt und wird heute immer noch reproduziert. Deswegen braucht es einen dekolonialen Ansatz, der unser Wissen hinterfragt und neue Perspektiven aufzeigt. So wurde die Idee zu Let's talk about Sex, Habibi geboren, wo ich versuche, über Liebe, Begehren und Körperlichkeit ganz viele andere Themen aufzumachen: Feministische Kämpfe, Queers, postkoloniale Strukturen, Nord-Süd-Gefälle. Das Buch ist mein kleiner Beitrag, Wissen zu dekolonialisieren.

Das Klischee der Hypersexualität hast du bereits angesprochen. Daneben sprichst du in deinem Buch häufig von Fetischisierung. Was bedeuten die beiden Begriffe?

Dabei geht es um die Intersektion von Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit. Wenn gesagt wird, dass nordafrikanisch aussehende Männer ihre Sexualität nicht im Griff hätten, werden sie damit hypersexualisiert. Spätestens nach der sogenannten Kölner Silvesternacht ist das ja zu einer Chiffre geworden.

Bei der Fetischisierung werden Stereotype auf die Körper von Menschen projiziert, die in der Realität nicht immer stimmen. Beispiele sind anti-schwarzer Rassismus, oder wenn gesagt wird, alle muslimischen Frauen seien unterwürfig. Damit wird den Menschen die Menschlichkeit genommen, sie werden zu Objekten. Mit meinem Buch wollte ich einen Beitrag leisten, den Menschen in Nordafrika ihre Subjektivität in unseren Diskursen wiederzugeben. Das ist doch das Spannende für mich als Reporter: abzubilden, was die Realität der Menschen vor Ort ausmacht.

Zur Realität vieler Menschen in Nordafrika gehört auch das Streben nach einem europäischen Schönheitsideal.

Der Kolonialismus hat uns eingehämmert, es gäbe eine Hierarchie der Hautfarben: „Du bist minderwertig im Vergleich zu weißen Europäer*innen, aber stehst über Menschen mit schwarzer Hautfarbe.“ Selbst als von Rassismus betroffener agierst du dann rassistisch. Dieses weiße Schönheitsideal wird bis heute reproduziert. Mit meinem Buch wollte ich zeigen, was Schönheitsideale aus anderen Traditionen ausmacht.

Das schilderst du anhand eines Nachtclubs, in dem eine dicke Stripperin tanzt.

Genau, in Algerien gibt es ein Schönheitsideal, welches dicke Menschen bevorzugt. Und von außen kommt dann der Diskurs, man müsse wie ein Model auf dem Laufsteg aussehen. Und dann machen die Menschen vor Ort etwas damit.

Erkläre das.

Die jungen Menschen entscheiden, was sie für sich etablieren. Zwar gibt es immer noch Jugendliche, die sich in der Apotheke Kontaktlinsen holen, um blaue Augen zu haben. Aber dieselben jungen Menschen gehen dann auf eine Hochzeit, tanzen traditionelle Tänze und finden das geil! Die Realität ist komplex, auch das wollte ich im Buch zeigen.

Hast auch du koloniale Schönheitsideale verinnerlicht?

Früher habe ich oft meine zwei Schwestern beobachtet, wie sie stundenlang unter Schmerzen ihr krauses Haar glätten. In den 2000ern dachte ich als privilegierter cis-Junge: Ah ja, das ist das Schönheitsideal. Heute weiß ich: Das ist eigentlich ein Konstrukt von Pantene Pro-V-Werbung.

Oder eine Folge der französischen Anti-Schleier-Plakate, die du beschreibst.

Ja, genau. Wir können historisch aufzuarbeiten, woher diese Diskurse kommen, wegen denen Frauen sich stundenlang quälen, um „schön“ auszusehen: Ja, es gab die französischen Kolonialherren, die den Frauen mit ihren Plakaten bis in die 1960er ein bestimmtes Schönheitsideal diktierten. Auf der anderen Seite sagen radikalisierte konservative Kräfte, dass nur verhüllte Frauen schön seien. Letztendlich geht es immer darum, Kontrolle über Körper auszuüben. Sich davon zu befreien ist Emanzipation in Reinform.

Als Jugendlicher wurdest du in Marrakesch von einem europäischen Sextouristen verfolgt. Männer wie er hatten damals Narrenfreiheit, schreibst du. Heute noch immer?

Das Problem ist sogar noch größer geworden! Man kommt heute für 40 Euro nach Marrakesch und zurück. Und nicht nur in der Region, sondern auch in Europa schauen die staatlichen Stellen weg. In manchen pädokriminellen Internetforen heißt es: „Du kannst nach Marrakesch gehen und dir Sechsjährige kaufen.“ Wir haben eben gesprochen über Andersmachung und Objektivierung. Und in diesem Fall werden die Körper von nicht weißen, rassifizierten Minderjährigen in Nordafrika ja komplett verdinglicht.

Für mich war es Empowerment, das im Buch zu verarbeiten, denn als mich dieser Sextourist damals mitnehmen wollte, habe ich die Situation gar nicht verstanden. Dieser Vorfall hat mich motiviert, zu recherchieren und auf diese Gefahr aufmerksam zu machen. Auch in Deutschland muss man darüber nachdenken, wie man dagegen vorgeht.

In deinem letzten Buch schreibst du über Refugee Porn, also Sexfilme, in denen People of Color fetischisiert und erniedrigt werden. Warum gibt es im neuen Buch dazu kein Kapitel?

Refugee Porn ist ein Thema, das in erster Linie weiße Männer betrifft. Es war mir total wichtig, mich von dieser weiß-zentrierten Perspektive zu befreien. Im neuen Buch beschreibe ich ja, dass der Pornogeschmack vieler Männer in Ägypten ein ganz anderer ist.

Ich habe sehr geschmunzelt, als ich gelesen habe, wie du mit deinem Schulfreund Porno-DVDs tauschst.

Beim Schreiben habe ich mich auch wochenlang weggelacht. Ich hatte immer Angst, dass das niemand versteht, weil das so absurd war. Diese Szene noch einmal aufzuschreiben, das war für mich der „Hihi“-Faktor. Und ich hoffe, dass die Leser*innen sich hier und da wiedererkennen.

Du willst weg vom weiß-zentrischen Blick, lass uns dennoch über „Lifestyle-Tipps für Süßkartoffeln“ reden, also deine Liste mit Antirassismus-Tipps für weiße Deutsche aus deinem letzten Buch. Willst du sie aktualisieren?

Gute Frage. Das Schwierigste beim Schreiben von Der weiße Fleck war genau diese Liste mit den Lifestyle-Tipps. Denn wer bin ich, jetzt auch noch die Lösung für die ganzen Probleme anbieten zu müssen? Aber nachdem das immer wieder gefordert wurde, habe ich den Mut gehabt, diese Liste zu machen.

Eine Ergänzung habe ich: Let’s Talk About Sex, Habibi zu lesen! Mit dem neuen Buch will ich die Stereotype dekonstruieren, die ich in meinen vorherigen Büchern zeige. Die Leute sollen sich mit der Lebensrealität der Menschen auseinandersetzen, den Struggle von rassifizierten Menschen auf sich wirken lassen und erkennen: Warte mal, das mit der Hypersexualität kann eigentlich nicht stimmen.

Mohamed Amjahid: Let's Talk About Sex, Habibi: Liebe und Begehren von Casablanca bis Kairo. Piper, München 2022. 224 S., 18 €.