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Tödliche Ignoranz

Mai 2020: Fahrgäste mit Masken in einem Bus in Kochi, Kerala. Foto: Oscar Espinosa / iStock

In Indien ließ die Regierung alle Chancen verstreichen, den Ausbau der öffentlichen Krankenversorgung zur Bekämpfung von Corona zu forcieren.

Heulende Sirenen, Scheiterhaufen und mittendrin Tausende, die verzweifelt nach Sauerstoff oder einem freien Krankenhausbett suchen. Es war der nackte Kampf ums Überleben, der ab April des zweiten Corona-Jahres die Straßen in Neu-Dheli und Titelseiten rund um den Globus prägte. Offiziell forderte das Virus in Indien mehr als 400.000 Menschenleben, doch diese Zahl hilft nur bedingt, die Tragödie nachzuvollziehen. „Die wahre Zahl der Toten liegt bei mehreren Millionen, nicht bei hunderttausenden“, schätzen Forscher des Center for Global Development. Corona warf Entwicklungsfortschritte auch in anderen Bereichen um Jahre zurück.

Die Tragödie ist auch deshalb so unbegreiflich, weil ein besseres Krisenmanagement einen großen Teil des Leides hätte ersparen können. Doch eine Antwort von Premier Narendra Modi und seiner rechts-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) auf das Virus gab es faktisch nicht. Die Mitglieder des Kabinetts reagierten durchweg planlos, als sei ihnen Corona schlicht einerlei.

Impfungen in Zeitlupe

Ein frühes Zeugnis des schlechten Krisenmanagements ist Indiens gescheitertes Impfprogramm: Erst Mitte April 2021, als die zweite Pandemiewelle das Land schon fest im Griff hatte, wurden drei staatliche Impfstoffhersteller zur Produktion des AstraZeneca-Vakzins und der Eigenproduktion Covaxin lizensiert. Bis dahin hatten aus unerfindlichen Gründen nur zwei Produzenten eine Genehmigung, was das Angebot bis in den Frühling niedrig hielt. Ende April waren lediglich 8,5 Prozent der Bevölkerung immunisiert – viel zu wenig, um die zweite Pandemiewelle abzuschwächen.

Weil eine Impfdosis in Privatkliniken teils bis zu 2.400 Rupien (27 Euro) kostet, ist die Immunisierung für viele Inder:innen überdies schlicht unbezahlbar. Dass in dem Land eine hohe Impfzurückhaltung vorherrscht, verschärfte die Auswirkungen der Pandemie zusätzlich. Denn Falschinformationen zur Impfung verbreiteten sich auf WhatsApp wie ein Lauffeuer. Und wenn die Staatsführung dann auch noch höchstpersönlich den Anschein erweckt, Covid-19 sei harmlos, ist eine hohe Impfskepsis kein Wunder.

Nicht nur für die Impfkampagne hatte das demonstrative Desinteresse der Regierenden schwerwiegende Folgen: Tausende Infizierte kamen ins Land, weil die internationalen Flughäfen noch bis weit in den März 2020 offenblieben. Nachverfolgung oder Testangebote gab es nicht – ebenso wenig, als Premier Modi mit Donald Trump im Februar vor hunderttausenden Zuschauern durch den Bundesstaat Gujarat tourte. Noch am 13. März versicherte Modi, in Indien gäbe es »keinen Gesundheitsnotstand«, dabei hatte die WHO ebendiesen bereits im Januar festgestellt. 11 Tage später dann die Kehrtwende – in ganz Indien wurde eine Ausgangssperre verhängt.

Neoliberale Tragödie

Vor Hybris und Gleichmut verhallte aber der Warnschuss, der die erste Pandemiewelle war: Die Chance, den Lockdown zum Ausbau der öffentlichen Krankenversorgung zu nutzen, ließ Modi verstreichen. Und dann? »Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle war weder von ihm noch von seinem für die Pandemiebekämpfung zuständigen Innenminister, Amit Shah, irgendetwas zu sehen«, so Aurel Eschmann vom Südasien-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi.

Denn beide waren den ganzen April 2021 damit beschäftigt, sich auf pompösen BJP-Veranstaltungen in Westbengalen zu inszenieren. Zum Wahlkampf gehörte sicher auch, dass die Bundesregierung das Badefest Kumbh Mela genehmigte, bei dem sich Hindus einer rituellen Waschung unterziehen. Heute weiß man: die Versammlungen waren Superspreader-Events, von der Regierung gefördert. Vor dem Badefest warb die BJP sogar ausdrücklich für eine Teilnahme. Rund drei Millionen folgten dem Ruf an den Fluss Ganges, der im Mai tausende Leichen an seine Ufer spülte.

Ja, Indiens Corona-Tragödie ist das Zeugnis von gnadenloser Ignoranz, der religiösen Verblendung und der Überheblichkeit des Kabinetts Modi. Mindestens genauso ist es aber eine Tragödie des Neoliberalismus. Die Pandemie hat sichtbar gemacht, wie gelähmt ein Gesundheitssystem ist, das man seit 1990 immer mehr ausgehöhlt hat, so dass heute 70 Prozent aller Gesundheitsleistungen von privaten Einrichtungen erbracht werden und eine universelle Krankenversicherung für alle in weite Ferne gerückt ist. Statistisch gesehen kommen in Indien auf einen Mediziner 11.000 Einwohner, die WHO sieht ein Verhältnis von 1:1000 vor. Dazu steht lediglich ein Sechstel der eigentlich benötigten Krankenhausbetten zur Verfügung.

Entkerntes Gesundheitssystem

Der status quo hat seinen Ursprung zwar bereits lange vor der Ära Modi. Doch seine BJP treibt den Rückbau der öffentlichen medizinischen Versorgung seit 2014 weiter voran, und schreckt davor auch mitten in der Pandemie nicht zurück: Im Gesundheitshaushalt für 2021-22 ist eine Budgetkürzung um zehn Prozent geplant. Dabei sind Indiens Gesundheitsausgaben mit zwei Prozent des BIP bereits extrem niedrig (Deutschland: 12 Prozent).

Wie verheerend Modis Verschlankungskur ist, tritt während der Pandemie ganz besonders zu Tage. Mehrere Bundesstaaten forderten ihre Privatkliniken zwar auf, fixe Quoten und Behandlungskosten für Corona-Kranke zu gewährleisten. Trotzdem wurde von horrenden Preisen von bis zu 100.000 Rupien (1135 Euro) für einen Tag Behandlung berichtet. Mittellose Kranke werden teils gar nicht erst aufgenommen.

Dass es besser geht, zeigt das Beispiel Kerala. Bei Al Jazeera berichtet K. K. Shailaja, die bis Mai 2021 Gesundheitsministerin des Bundesstaats im Südwesten Indiens war: „Bereits einen Tag nach der Warnung der WHO, das Coronavirus sei eine Atemwegserkrankung mit Pandemiepotenzial, haben wir unser gesamtes Überwachungsnetz aktiviert.“ Lange vor dem bundesweiten Lockdown hielt die Landesregierung die Menschen dazu an, zuhause zu bleiben. Tests und Hygieneartikel wurden beschafft, eine umfassende Kontaktverfolgung eingeführt. Der unwürdigen Behandlung reisender Wanderarbeiter:innen während der Ausgangssperre setze Kerala mehr als 15 000 staatliche Hilfscamps und medizinische Checkpoints entgegen. So überstand der Bundesstaat die erste Pandemiewelle glimpflich – und wurde international zum Vorbild.

Mit Bildung gegen die Pandemie

Doch nicht nur das Krisenmanagement in Kerala zahlt sich aus: „Bildung spielt definitiv eine Rolle“, erklärt Ex-Weltbank-Vizepräsident Vinod Thomas gegenüber The Hindu. „Und Bildung kann nicht von einem Tag auf den anderen aufgebaut werden.“ Kerala wird in wechselnden Konstellationen und seit fast 40 Jahren von einem linken Regierungsbündnis geführt. Ein Schwerpunkt in dessen Bildungspolitik lag dabei stets auf der Emanzipation von Frauen: Etwa ein Viertel der weiblichen Bevölkerung Keralas, rund 4,5 Millionen, ist heute in Nachbarschaftsgruppen organisiert. Seit Beginn der Pandemie tauschen sie sich auf WhatsApp über neue Hygienevorschriften aus, räumen mit Fake News über das Virus auf. Diese Vernetzung ist das Ergebnis des staatlich geförderten Projektes »Kudumbashree«, welches seit 1997 besteht.

All das macht Kerala natürlich nicht immun gegen das Virus. In der zweiten Pandemiewelle war der Staat bei den Neuinfektionen sogar Spitzenreiter. Doch gleichzeitig ist der Fall-Verstorbenen-Anteil hier mit 0,5 Prozent bedeutend niedriger als die bundesweite Fatalitätsrate, welche 1,3 Prozent beträgt. Ein weiterer Grund dafür: In Kerala befinden sich einige der besten Krankenhäuser Indiens, das öffentliche Kliniknetz ist gut ausgebaut. Keralas Erfolgsrezept gegen Corona ist also die Frucht aus staatlichen Investitionen in Bildung und der starken öffentlichen Gesundheitsversorgung.

Dagegen kämpft nicht nur die BJP, auch in der Entwicklungszusammenarbeit mit Indien zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab: Maximizing Finance for Development (MFD), ein Ansatz der Weltbank von 2017, sieht großzügige Subventionen für private Geldgeber vor, wenn diese in Entwicklungs- und Schwellenländer investieren. Was für Unternehmen unzählige neue Anlagemöglichkeiten bedeutet, dürfte den Menschen in Indien wenig nützen: Zwar eröffnete MFD den Zugang zu großzügigen Krediten, vorwiegend aber für die Privatisierung im Gesundheits- und Bildungswesen. Auf der Weltbank-Jahresversammlung 2020 war man sich überdies einig, zur wirtschaftlichen Erholung von der Pandemie seien weitere Privatisierungen nötig. Das könnte in Zukunft zusätzlichen Druck für die Regierung in Kerala bedeuten, die sich bis jetzt erfolgreich wehrt.

Erst dieses Jahr wieder versuchte die BJP, den Verkauf der Bezirkskrankenhäuser durchzudrücken. K. K. Shailaja hält dagegen: „Wir versuchen, Geld und Macht gleich zu verteilen.“ In Kerala offenbart sich, dass dieser Ansatz die wirksamste Waffe gegen das Virus ist – nicht etwa Privatisierungen oder Modis Gleichgültigkeit vor der Gesundheit der Bevölkerung. Damit schafft man höchstens Profite, nicht aber den Weg aus dieser Pandemie, die nun einmal „pandēmios“, also buchstäblich „im ganzen Volk“ wütet.

01.09.2021

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