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Erst die Kleinen oder ein Schichtmodell?

Die Schulen wieder öffnen, aber wie? Ein Epidemiologe, ein Bildungsexperte und eine Lehrerin erklären, was sie von vier verschiedenen möglichen Modellen halten.

Alle Fragen im Überblick:

Die Grundvoraussetzung, damit die Schulen wieder öffnen können

Timo Ulrichs

ist Mikrobiologe und Infektionsepidemiologe und Professor für Internationale Not- und Katastrophenhilfe an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. Von 2006 bis 2012 war er Referent am Bundesministerium für Gesundheit und dort unter anderem zuständig für den Seuchenschutz und die Influenzaplanung. Ulrichs hat selbst drei Kinder, die gerade Unterricht von zu Hause aus machen. Die beiden Älteren sind 14 und 13 Jahre alt und erledigen ihre Onlineaufgaben gerade selbst - der Jüngste ist acht und braucht eine intensivere Betreuung, sagt Ulrichs.

Epidemiologe Timo Ulrichs: "Wenn Schulen wieder geöffnet werden sollen, dann sind drei Dinge entscheidend. Erstens: Alle sollten Masken tragen! Jede und jeder, der sich dem Schulgebäude nähert, sollte dazu angehalten werden, einen Mund- und Nasenschutz anzulegen, um die Wahrscheinlichkeit einer Virusübertragung zu reduzieren. Zweitens: Eine bundesweit einheitliche Regelung wäre nach gegenwärtiger epidemiologischer Lage nicht sinnvoll - wir müssen die Lockerungen gemäß den Fallzahlen in den jeweiligen Bundesländern organisieren. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise sind die Zahlen gering, in Bayern hoch: Daran müssen sich die neuen Vorschriften zum Schulbesuch orientieren. Drittens - und das ist besonders jetzt mit Blick auf den 19. April entscheidend: Wir müssen die Zahlen der Neuinfektionen im Auge behalten. Schulen können - ganz gleich mit welchem Modell - erst dann wieder öffnen, wenn sich die Zeitspanne, in der sich die Zahl der Infektionen verdoppelt, auf mindestens 14 Tage ausgeweitet hat, besser mehr."

Thomas Sattelberger

ist Sprecher der FDP im Bundestag für Innovation, Bildung und Forschung. Mitte März ist Sattelberger selbst an Covid-19 erkrankt und hat daraufhin ein YouTube-Tagebuch gestartet, in dem er jeden Tag aus der Quarantäne berichtet. Damit wolle er den Menschen vor allem die Panik vor der Krankheit nehmen. Mehr Sorgen mache ihm die mangelnde Hygiene an deutschen Schulen und das Fehlen von Masken, die für jeden nötig würden, der wieder in die Schule gehen wolle.

Bildungsexperte Thomas Sattelberger: "Es ist klar, dass es keinen Vollstart für die Schulen nach Ostern geben kann und wir die Schulen nur nach und nach wieder öffnen können. Und dann müssen die Schulen so ausgerüstet sein, dass sie alle Vorsichtsmaßnahmen einhalten können. Schon vor Corona waren die Hygienestandards an einigen Schulen bedenklich - und jetzt müssen sie noch höheren Anforderungen genügen. Außerdem brauchen wir Millionen von wiederverwendbaren Masken für alle Schülerinnen und Schüler und für das Lehrpersonal. Aber momentan haben wir diese Masken nicht und das heißt für mich: Schulöffnungen nur dann, wenn genügend Masken da sind. Oder die Schulen bleiben eben weiter zu."

Birgit Dittmer-Glaubig

ist Lehrerin und Konrektorin an einer Mittelschule in München-Schwabing. Sie unterrichtet Deutsch und das Kombinationsfach Geschichte-Sozialkunde-Erdkunde. Obwohl sie sich selbst zur Risikogruppe zählt, hat sie sich mit Schülerinnen und Schülern auf dem Schulhof getroffen, um mit ihnen Unterrichtsmaterialen und Aufgaben auszutauschen. Das Wichtigste sei, den Schülerinnen und Schülern die Angst nehmen. Einen Abschluss sollen sie trotz des Unterrichtsausfalls bekommen.

Lehrerin Birgit Dittmer-Glaubig: "Ich glaube, dass nur unterrichtet werden kann, wenn wir neue Standards schaffen. Dazu gehört zum einen, dass die Hygienemaßnahmen an allen Schulen eingehalten werden können, also genügend Waschbecken, Desinfektionsmittel und Mund- und Nasenschutz für Lehrpersonal und die Schülerinnen und Schüler vorhanden sind. Natürlich muss zum anderen auch der Mindestabstand eingehalten werden können. Ich denke da an fünf Schülerinnen und Schüler pro Klassenzimmer. Ich wünsche mir, dass es auf Bundesebene dazu eine einheitliche Lösung gibt, an die sich dann alle halten müssen. Die Verantwortung komplett an die Schulleitung abzugeben wäre unfair."

Szenario 1: Bestimmte Jahrgänge werden wieder in die Schule geholt

Bei diesem Modell würden entweder die jüngeren oder die älteren Schüler zuerst wieder zum Unterricht kommen. Der Vorschlag aus dem Leopoldina-Gutachten ist: Kinder kurz vor dem Abschluss der Primarstufe sollten als Erstes zurück, damit der Übergang auf weiterführende Schulen problemlos läuft. Schülerinnen kurz vor dem Abschluss könnten eine Kombination aus Unterricht vor Ort und digitalem Lernen erhalten.

Epidemiologe Timo Ulrichs: "Die Umsetzung des Modells, erst bestimmte Jahrgänge in die Schule zurückzuholen, halte ich für praktikabel. Wichtig ist hier, dass dieses Modell an die Gegebenheiten vor Ort angepasst wird: Eine große Schule hat sicher bessere Chancen, den Mindestabstand von eineinhalb Metern für alle durchzusetzen als kleinere Schulen. Ich würde vorschlagen, mit den unteren Jahrgängen anzufangen, weil es leichter ist, Hygiene- und Abstandsregeln bei jüngeren Kindern zu kontrollieren. Das Lehrpersonal muss allerdings darauf achten, dass sich die Kinder in den Pausen nicht zu nahe kommen. Das wird auf jeden Fall schwierig. Nach der langen Zeit ohne Kontakte wollen die Kinder wieder miteinander spielen. Das wird sicher hart werden, aber da müssen wir jetzt alle durch."

Bildungsexperte Thomas Sattelberger: "Das Modell kann meiner Meinung nach funktionieren und dafür sollten allerdings zuerst die älteren Schülerinnen und Schüler wieder an die Schulen zurückkommen. Ich glaube, hier wird es einfacher sein, Verantwortungsbewusstsein und die nötige Disziplin für Abstands- und Hygieneregeln einzufordern. Außerdem sollten alle die Chance haben, ihren Abschluss zu machen, um anschließend studieren zu können oder eine Ausbildung anzufangen. Es sollten nicht nur die Lehrer aufpassen, dass der Mindestabstand diszipliniert eingehalten wird, sondern vielleicht auch die Gesundheitsämter: Ich könnte mir eine Art Hygiene-Unbedenklichkeitsbescheinigung für die Schulen vorstellen, die den nötigen Maßnahmen genügen."

Lehrerin Birgit Dittmer-Glaubig: "Auch ich schätze das als realistisch ein. Natürlich kommt es darauf an, wie groß eine Schule ist und wie viel Platz den Schülerinnen und Schülern eigeräumt werden kann, die auch nur nacheinander ins Gebäude gehen sollten. Die Abschlussjahrgänge sollten definitiv Vorrang haben! Viele der Schülerinnen und Schüler, die jetzt ihren Abschluss machen wollen, haben Angst, dass sie ohne Präsenzunterricht den Stoff nicht richtig aufnehmen können. Es geht einfach darum, ihnen die Sicherheit zu geben und ihnen den Druck und die Angst vor der Prüfung zu nehmen: Wir kriegen das schon alles hin! Aber das lässt sich persönlich viel besser sagen als per E-Mail."

Szenario 2: Der Unterricht läuft nach einem Schichtplan ab

Dieses Modell ist eine Variante zum ersten Schichtmodell. Überlegt wird hier, die Schülerinnen und Schüler in einem Schichtsystem zurück an die Schulen kommen zu lassen. Dazu könnte man die Schüler in Vormittags- und Nachmittagsklassen aufteilen oder die Schulwoche so strukturieren, dass einzelne Klassen nur an bestimmten Tagen zur Schule kommen.

Epidemiologe Timo Ulrichs: "Eine Teilung in Vormittags- und Nachmittagsunterricht wäre sicher machbar, doch das würde auch einen großen organisatorischen Aufwand und eine Mehrarbeit des Lehrpersonals mit sich bringen. Ein Stufenmodell, bei dem alle Masken tragen, wäre sicher einfacher umzusetzen. Auch beim Schichtmodell müsste die jeweilige Schulleitung entscheiden, ob es möglich wäre, dass sich die Kinder im Gebäude aus dem Weg gehen können. Da wäre es vielleicht doch sinnvoller, wenn man nicht nach Tageszeiten, sondern nach Tagen trennt."

Bildungsexperte Thomas Sattelberger: "Auch dieses Modell halte ich für klug, allerdings kommt es hier auf die Struktur der Schule an. Wenn man keine großen Klassenräume und eher größere Schülerzahlen hat, dann sollte man die Klassen schon aufteilen. Für mich würde auch ein geschichteter Tagesablauf gut funktionieren - der eine Teil kommt von 8 bis 12 Uhr und ein anderer Teil von 13 bis 17 Uhr. Die Kinder dürfen nur nicht alle auf einmal im Gebäude sein. Es muss genügend Platz vorhanden sein, dass sie sich aufteilen können - und hier sehe ich bei vielen Schulen einen Engpass."

Lehrerin Birgit Dittmer-Glaubig: "Ich glaube, dass auch dieses Modell durchaus machbar wäre. Die Frage ist nur, wie man mit dem Lehrpersonal umgeht: Statt sechs Stunden Unterricht kann keiner auf einmal zwölf Stunden arbeiten. Wenn man auch hier davon ausgeht, dass die Abschlussklassen zuerst wieder in die Schule kommen können, dann ist ein geschichtetes Modell für die anderen Jahrgänge nach den Abschlussprüfungen durchaus denkbar: Selbst wenn alle fünften Klassen nur einmal die Woche in die Schule kommen und sich den Rest zu Hause aneignen, dann habe ich keine Bedenken, dass sie den verpassten Stoff schnell nachholen können. Wer nicht alle Vokabeln einer Lektion im Englischbuch kennt, wird die Sprache ja trotzdem lernen."

Szenario 3: Schulen werden für einen Teil der Schüler geöffnet

Nach diesem Szenario würden nur die Schülerinnen und Schüler wieder zurück in die Schule kommen, die weder sich selbst noch Menschen in ihrem Umfeld gefährden können. Die Schülerinnen und Schüler, für die ein größeres Risiko besteht, nehmen online am Unterricht teil.

Epidemiologe Timo Ulrichs: "Dieses Modell ist in meinen Augen am schwierigsten umzusetzen, da hier ja Schüler ausgewählt werden sollen, die zur Schule gehen, und andere, die zu Hause bleiben. Wir müssten genau wissen, wie jemand zur Schule kommt, mit wem er zu Hause in Kontakt ist und ob es Vorerkrankungen in der Familie oder dem engeren Umfeld gibt. Für dieses Szenario wäre ein Test für alle obligatorisch. Wir haben aber momentan noch keinen flächendeckenden Antikörpertest, mit dem man prüfen könnte, ob man das Virus schon hatte und immun ist. Sicher würde es schneller gehen, wenn wir nicht zuvor ausgewählte, sondern alle Schülerinnen und Schüler der zugelassenen Jahrgänge wieder in die Schule kommen ließen und dann darauf bestünden, dass alle einen Mund- und Nasenschutz tragen."

Bildungsexperte Thomas Sattelberger: "Ich glaube, dass dieses Modell immer Teil der Überlegungen sein muss. Bei jedem Modell wird es Ausnahmen geben - sei es bei den Schülerinnen und Schülern oder beim Lehrpersonal. Vorerkrankungen können auch junge Menschen haben und kein Lehrer, der sich selbst zur Risikogruppe zählt, sollte sich vor eine Klasse stellen müssen. Eine einheitliche Regelung von allen Bundesländern wäre hier angebracht, damit sich die Schulleitungen daran halten können. Aber ich bezweifle stark, dass wir hier zu einer gemeinsamen Lösung kommen werden."

Lehrerin Birgit Dittmer-Glaubig: "Dieses Modell halte ich für problematisch. Wie kann man denn entscheiden, wer zu einer Risikogruppe gehört und wer nicht? Da spielt ja nicht nur der Krankheitszustand eine Rolle, sondern auch Kinder, die aus sozialen Brennpunkten stammen oder deren Eltern nicht die Chance haben, ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen. Man müsste sehr akribisch abfragen, wie genau die Situation der Schülerinnen und Schüler im Elternhaus ist und das würde - zumindest an meiner Schule - schon an den Sprachbarrieren zwischen Eltern und Lehrern scheitern. Und dafür bräuchte man dringend eine funktionierende und flächendeckende Testung: Schulen sind ein Hotspot für Viren - hier darf man kein Risiko eingehen."

Szenario 4: Unterricht von zu Hause

Dieses Modell wäre sehr ähnlich zur aktuellen Situation: Die Schülerinnen und Schüler bleiben weiterhin zu Hause, wo sie die Aufgaben erledigen, die sie von ihren Lehrerinnen und Lehrern bekommen.

Epidemiologe Timo Ulrichs: "Unterricht von zu Hause kann keine dauerhafte Lösung sein, dafür werden zu viele Kräfte gebunden. Die Eltern, die gerade im Homeoffice sind, sollten von der Doppelbelastung, gleichzeitig auch noch das Homeschooling zu betreuen, so schnell wie möglich befreit werden. Deswegen bin ich auch dafür, dass zuerst die jüngeren Kinder wieder in die Schule gehen können. Wir müssen versuchen, in dem Rahmen, den wir gerade für sicher halten, Freiräume zu schaffen - und das fängt bei der Situation zu Hause an. Wenn sich Eltern weniger Gedanken machen müssen, wie sie ihre Kinder beschäftigen oder zum Lernen überreden können, dann wird sich zumindest die Lage in den Familien wieder etwas entspannen - und das kann ja auch positive Auswirkungen auf andere Bereiche unserer Gesellschaft haben und die Kollateral- und Folgeschäden der Lockdown-Maßnahmen möglichst gering halten."

Bildungsexperte Thomas Sattelberger: "Momentan gibt es nur einige wenige Guerilla-Lehrer, die eine Unterrichtsstunde per Videostream anbieten, viele andere sagen nur, welche Seiten im Lehrbuch gelesen werden sollen. Dabei ist der digitale Unterricht von zu Hause die Zukunft! Mir gehen die Modelle zu Schulöffnungen, die gerade diskutiert werden, alle nicht weit genug. Wenn die nächste Krise oder eine weitere Welle der Pandemie kommt, dann muss das gesellschaftliche Leben wieder runtergefahren werden und wir stehen wieder am Anfang. Wir brauchen Onlinekurse mit guten Inhalten, geschultes Lehrpersonal und einen Zugang zu mobilen Endgeräten für alle, dann kann der Unterricht von zu Hause nicht nur eine Alternative, sondern eine gute Lösung sein."

Lehrerin Birgit Dittmer-Glaubig: "Als Ergänzung werden wir den Unterricht von zu Hause auch weiterhin brauchen - am besten digital. Denn egal, wie sich die Minister entscheiden: Eine vollständige Öffnung aller Schulen und eine Rückkehr zum Schulalltag wird es so schnell nicht geben. Aber wir dürfen uns von diesem Unterricht von zu Hause auch nicht zu viel versprechen. Viele Eltern sind mit dem Lernstoff überfordert und viele Schüler haben auch nicht die Möglichkeit, sich mit eigenem Laptop an den Schreibtisch in ihrem Zimmer zu setzen. Viele meiner Schülerinnen und Schüler müssen auf öffentliches WLAN und Computer in Bibliotheken zugreifen, um überhaupt online arbeiten zu können. Zudem fehlt es an der Motivation: Wir müssten es schaffen, fernab von Noten eine Möglichkeit zu finden, die Schülerinnen und Schüler dazu motiviert, freiwillig zwei oder drei Stunden am Tag was für die Schule zu machen. Wir Lehrer müssen alles dafür tun, dass wir unsere Schüler in der Krise nicht verlieren, aber wie das gehen kann, weiß ich selbst auch nicht."

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