Seit März 2019 weiß Gregor Bartalan (Name von der Redaktion geändert), dass er seine Wohnung verlieren wird. "Eigenbedarfskündigung" stand auf dem Brief, den ihm sein Vermieter in den Briefkasten warf. Bartalan ist arbeitslos und seit einem Leistenbruch und einer missglückten Operation schwerbehindert. Einen Umzug in eine andere Wohnung schaffe er nicht, sagt er, weder finanziell noch körperlich. Und der angespannte Wohnmarkt Berlins tut sein Übriges. Undenkbar, meint er, dass er so kurzfristig eine Wohnung finde, die er sich mit der Unterstützung vonseiten des Jobcenters leisten könnte.
470 Euro stehen ihm dafür zur Verfügung. Das reicht laut aktuellem Mietspiegel vielleicht gerade noch für eine Wohnung am Rande Berlins - aber um die wenigen verfügbaren liefern sich die Interessenten wahre Kämpfe. "Wenn ich nichts finde, dann lande ich auf der Straße", sagt der 53-Jährige. "Ich will das nicht. Aber wenn es so weitergeht, sehe ich keinen anderen Ausweg."
Die dramatische Lage am Wohnungsmarkt treibt offenbar immer mehr Menschen auf die Straße. Wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) mitteilte, stieg die Zahl der Obdachlosen 2017 im Vergleich zum Vorjahr um 15 bis 20 Prozent auf geschätzte 650.000 Menschen. Rechnet man die anerkannten Asylsuchenden heraus, die in Flüchtlingsunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht sind, dann waren 2017 gut 275.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung. Den Experten zufolge sind es gerade in jüngster Zeit vermehrt die hohen Mieten, die Menschen in die Obdachlosigkeit zwingen. 70 Prozent sind alleinstehend, heißt es in einer aktuellen Studie der BAG W. Viele von ihnen hätten ihre Wohnung wegen einer Mieterhöhung oder wegen einer Kündigung aus Eigenbedarf verloren und könnten sich eine neue nicht mehr leisten.
Noch lässt sich die Entwicklung nicht in belastbaren Zahlen ausdrücken, aber Menschen, die beruflich mit Obdachlosen zu tun haben und es daher wissen müssen, bestätigen den Trend. Wie viele Menschen sich bei ihr melden, weil ihnen die Wohnung gekündigt wurde oder sie keine Miete mehr bezahlen können, könne sie zwar nicht genau beziffern, sagt eine Beraterin der Berliner Obdachlosenhilfe. "Aber es sind sehr, sehr viele." Auch Kai-Gerrit Venske, Fachreferent für Wohnungslosenhilfe der Caritas Berlin, sagt: "Wir erleben immer häufiger Menschen, die wegen einer Eigenbedarfskündigung oder einer Mieterhöhung in einer verzweifelten Lage sind." Vor einigen Jahren seien kaum Menschen zu ihm gekommen, die aus diesen Gründen ihre Wohnung verloren hätten, sagt er. Heute aber passiere das regelmäßig.
Grund dafür muss auch gar nicht sein, dass der oder die Betroffene kein Einkommen hat - es trifft nämlich den Experten zufolge auch durchaus Menschen aus der Mittelschicht. Wer zum Beispiel Mietschulden aufhäuft, landet schnell in einer Zwangslage. Ein Eintrag bei der Schufa macht jede Wohnungssuche zur Odyssee.
Zu wenig Wohnungen in der Stadt, Überfluss auf dem LandWohnungskündigungen machen dabei nicht vor gewissen Gesellschaftsschichten Halt, sagt Venkse. Er habe mittlerweile Hilfesuchende jeden Alters und aus allen gesellschaftlichen Milieus in der Wohnungslosenhilfe empfangen. Viele, die ihre Wohnung verlieren, würden natürlich erst einmal versuchen, am Rand der Stadt eine Wohnung zu finden oder ins Umland zu ziehen. Doch nicht wenige verzweifelten am Wohnungsmarkt, sagt Venkse, und einige landeten dann eben auf der Straße.
Die mangelhafte Verfügbarkeit von Sozialwohnungen macht die Lage nicht besser, meint Werena Rosenke, die als Geschäftsführerin der BAG W die Studie mitverfasst hat. 2018 wurden nach Angaben des Bundesbauministeriums deutschlandweit de facto nur 27.000 Sozialwohnungen fertiggestellt, statt der rund 80.000, die es gebraucht hätte. "Der mangelnde Wohnraum treibt die Zahl der Obdachlosen immer weiter in die Höhe", bestätigt Rosenke. Je größer die Stadt sei, desto größer sei auch das Problem. Sie fordert daher, dass ein gewisser Prozentsatz der Sozialwohnungen extra für Obdachlose reserviert werden müsse.
Während in der Stadt die Wohnungssuche oft in einem Kampf gegen Hunderte Mitbewerber ausartet, herrscht auf dem Land teils auch Leerstand. So werde in Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und im Saarland etwa zu viel gebaut, besagt eine Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Wohnungen sind also durchaus vorhanden, nur nicht dort, wo man sie wirklich braucht.