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Habe ich zu viel gesagt? – Was hinter Oversharing steckt


Geheimnisse von Freunden oder intime Einblicke in das eigene Sexleben: Manchmal erzählt man Dinge, die man im Nachhinein lieber nicht geteilt hätte. Woher kommt Oversharing und wie vermeidet man, zu viel von sich preiszugeben?


Von Vanessa Fatho 

20. Oktober 2022 - 6 Min. Lesezeit


Hinweis: In diesem Text geht es unter anderem um psychische Erkrankungen wie beispielsweise Borderline und Depressionen. 

„War das jetzt eigentlich zu viel?“ Diese Frage kennt Isabell gut. Wie damals, als sie eine Kollegin auf das Thema Sexspielzeug ansprach. Isabell, damals Praktikantin bei einer Fernsehproduktion, kannte ihre Kollegin erst kurz, doch sie fühlte sich wohl. Zuvor hatten die beiden über Dating geredet, die Atmosphäre war entspannt. Doch dann teilte die Kollegin ihr mit: Das Thema Sexspielzeug sei ihr zu privat. Isabell erinnert sich: „Das war mir sehr unangenehm. Ich schämte mich und bin dann sehr still geworden.“ Sie hatte das Gefühl, zu viel geteilt und die Grenze ihrer Kollegin ungefragt überschritten zu haben. In ihrem Kopf drehten sich Fragen: Was, wenn die Kollegin sich nun zurückzieht? Was wird sie von ihr denken? Dass sie nur Aufmerksamkeit will? Oder wird sie die Information vielleicht sogar gegen sie verwenden?

Was Isabell beschreibt, hat einen Namen: Oversharing. Wer Oversharing betreibt, teilt übermäßig viel mit anderen Menschen. Zum Beispiel private Informationen im professionellen Kontext, so wie Isabell. Meist geschieht dies unbewusst. Laut Anastasia Zhukova, psychologischer Psychotherapeutin aus Berlin, liegt Oversharing das sogenannte Konstrukt der Selbstoffenbarung zugrunde. Das geht erst mal mit vielen positiven Merkmalen einher. „Die Selbstoffenbarung kann uns helfen, Nähe zu anderen Menschen herzustellen. Wer sich anderen Menschen öffnet, wirkt nahbarer, vertrauenswürdiger und sympathischer“, so die Expertin. Oversharing entstehe erst dann, wenn sich die Selbstoffenbarung nachteilig auf jemanden auswirke, wenn also die persönliche Grenze oder die des Gegenübers in einem Gespräch überschritten wird, sei es im engen Freundeskreis, bei losen Bekanntschaften oder spontanen Begegnungen. In der Folge tritt oft das ein, was Isabell beschrieben hat: Man schämt sich, zieht sich zurück, macht sich im Nachgang eines Gesprächs viele Gedanken.

Oversharing ist nichts, was man diagnostizieren könnte. Dennoch belastet es Betroffene sehr 

In der Wissenschaft ist Oversharing noch ein recht junges Phänomen. Während die Selbstoffenbarung und deren positive Eigenschaften seit Jahrzehnten untersucht werden, erhalten die Nachteile der Selbstoffenbarung bisher nur wenig Raum in der Forschung. Wie viele Menschen Erfahrungen mit Oversharing machen, ist unklar, auch deswegen, weil Oversharing nichts ist, was man diagnostizieren könnte.

Isabellas Kollegin hätte vermutlich nicht erwartet, an ihrem Arbeitsplatz mit dem Thema Sexspielzeug konfrontiert zu werden. Dass das Gegenüber in so einer Situation verunsichert sein kann, bestätigt auch Anastasia Zhukova: „Wenn ich selbst sehr viele private Informationen teile, kann es sein, dass mein Gegenüber peinlich berührt oder verunsichert ist, wie es reagieren soll. Auch kann es den Druck verspüren, sich mir ebenfalls zu öffnen, obwohl es dafür noch nicht bereit ist.“ Wer zu Oversharing neigt, solle deshalb im Gespräch auf die sozialen Signale der anderen Person achten: Schaut mich mein Gegenüber interessiert an und signalisiert mir, dass ich weitererzählen soll? Oder stutzt es, meidet den Blick und nimmt eine verschlossene Körperhaltung ein?                                  

Wer extravertiert ist, teile wahrscheinlich deutlich mehr als introvertierte Menschen und neige deswegen auch eher zu Oversharing, sagt Anastasia Zhukova. Außerdem könne auch Unsicherheit ein Grund sein: „Jemand, der sehr viel mit anderen teilt, möchte womöglich Anerkennung suchen oder sich etwas von der Seele reden und Unterstützung bekommen.“ Isabell glaubt, sie suche vor allem die Nähe und Zuneigung ihres Gegenübers – durch das spontane Teilen intimer Informationen.

Auch Henni, Studentin aus Bremen, kennt Oversharing. Zum Beispiel spricht sie offen über Sex – und merkt dann immer wieder, dass ihr Gegenüber überfordert ist: „Als ich einmal einem Freund ein bisschen detaillierter von einem One-Night-Stand erzählt habe, hatte ich das Gefühl, wenn ich jetzt noch weiterrede, weiß er gar nicht mehr, was er dazu sagen soll. Da tat er mir schon ein bisschen leid“, erzählt sie im Interview. Dabei habe ihre Offenheit für die 29-Jährige viel mit Ehrlichkeit zu tun. Sie wolle vermeiden, sich „in Ausreden und Lügengeschichten zu verstricken“. Nicht alle Menschen kommen damit zurecht: „Es haben sich auch schon Freundinnen und Freunde von mir zurückgezogen, als ich über psychische Erkrankungen oder sexuelle Übergriffe gesprochen habe“, sagt sie. Das habe sie mittlerweile akzeptiert und sei selbstbewusst genug, um mit der Ablehnung zurechtzukommen.

Das Phänomen Oversharing geht manchmal auch auf psychische Erkrankungen zurück, so Zhukova. Bei Autismus-Spektrum-Störungen haben Betroffene beispielsweise Schwierigkeiten, soziale Normen intuitiv zu erfassen, und teilen deshalb manchmal besonders viel von sich. Auch wer besonders impulsiv ist, teilt mitunter mehr als andere. Das kann zum Beispiel bei ADHS oder Borderline der Fall sein. Isabell vermutet, dass ihre psychische Erkrankung dazu beiträgt, dass sie so viel mit anderen teilt. Vor drei Jahren wurde Borderline bei ihr diagnostiziert. Die Persönlichkeitsstörung zeichnet sich durch emotionale Instabilität aus. „Ich merke oft, dass ich sehr viel teile, wenn Symptome meiner Erkrankung stärker werden, ich zum Beispiel sehr impulsiv reagiere oder sehr emotional werde“, so die 25-Jährige.

In den sozialen Medien ist Oversharing ebenfalls ein Thema. Etwas, das auch Isabell kennt: Es falle ihr leichter, Dinge online zu teilen als im direkten Gespräch, da sie die direkten Reaktionen ihrer Follower:innen dort nicht mitbekomme, sagt sie. Manchmal lösche sie ihre Beiträge nachträglich wieder. Nicht immer bedenkt sie, wer das alles sehen könnte. Einmal entdeckte ihre Patentante ein freizügiges Bild auf ihrem Instagram-Kanal und erzählte es ihrer Mutter. Doch die reagierte gelassen.

Wie reagieren, wenn man zu viel geteilt hat? 

Psychologin Anastasia Zhukova rät: Wer den Verdacht hat, zu viele private Informationen mit anderen Menschen zu teilen, sollte nach einem Gespräch in sich hineinhorchen. Wie fühlt sich das für mich eigentlich an? Fühle ich mich wohl damit oder habe ich gerade vielleicht meine eigenen Grenzen überschritten? „Manchmal kann es sein, dass ich mir etwas von der Seele reden möchte, einfach ein sehr großer Druck da war, ich mich danach aber unwohl, ängstlich oder bloßgestellt fühle. Dann habe ich eventuell meine eigene Schamgrenze überschritten und mehr Persönliches offenbart, als mir im Nachhinein lieb ist“, erklärt sie.

Auch wenn Isabell es manchmal bereut, sehr viel mit Menschen geteilt zu haben, sieht sie in ihrer Offenheit auch Vorteile. „Ich glaube, dass ich Leuten mit ähnlichen Problemen sehr offen gegenübertreten kann. Da gibt es kein ‚zu viel‘ oder Dinge, bei denen ich sage, das will ich von dir nicht hören“, sagt sie. Henni möchte vor allem aufklären und erzählt zum Beispiel von sexuellen Übergriffen, die sie erlebt hat, um Stigmata gegenüber Betroffenen abzubauen und Menschen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Wenn sie auf Social Media über Queerfeindlichkeit spricht, bekomme sie häufig Nachrichten von Leuten, die etwas Ähnliches erlebt haben.

Das Konzept Oversharing sieht Henni kritisch. Denn es gehe davon aus, dass es ein „zu viel“ an Informationen gibt: „Ich finde, das gehört zu einem erwachsenen Gespräch dazu, dass Menschen selbst in der Lage sind, zu kommunizieren, wenn für sie eine Grenze überschritten wird.“ Dennoch versuche sie immer abzutasten, ob bestimmte Themen mögliche Triggerpunkte für die andere Person sein könnten, gerade bei Traumata oder Gewalterfahrungen. Isabell fragt Freundinnen und Freunde mittlerweile im Vorfeld oft, ob diese überhaupt die Zeit und emotionale Kapazität haben, sich ihre Sorgen anzuhören und versucht, in spontanen Situationen weniger Privates zu teilen. Trotzdem möchte sie sich selbst treu bleiben: „Ich bin ein sehr emotionaler und kommunikativer Mensch. Leute in meinem Umfeld sollten damit umgehen können, weil das etwas ist, das ich wahrscheinlich nie komplett abstellen kann.“

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