Die Tafeln feierten jüngst in Deutschland ihr 20-jähriges Bestehen. Einst aus den Vereinigten Staaten zu uns hinübergeschwappt, versorgt diese soziale Bewegung Bedürftige mit "überschüssigen, aber qualitativ einwandfreien Lebensmitteln". Was sich anhört, wie ein funktionsfähiges Hilfe-System zur Linderung von Not und Armut lässt sich durchaus auch kritisch betrachten. Wir haben nachgefragt. Im Gespräch mit Prof. Dr. Stefan Selke, Professor für Soziologie an der Fakultät "Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft" der Hochschule Furtwangen University im Schwarzwald.
Herr Professor Selke, 20 Jahre "Tafelbewegung" in Deutschland - gibt es Anlass zum Feiern?
Aus meiner Sicht sicher nicht. Tafeln sind eine kurzfristige Erleichterung. Aber Tafeln sind nicht angenehm, höchstens hinnehmbar. Das dort Erhaltene wiegt oft das dort Erlebte nicht auf. Die Existenz der Tafeln selbst ist der Skandal: Menschen in diesem Land haben nicht genug, um sich selbst zu versorgen, selbst wenn sie arbeiten (working poor).
Langfristig ändern Tafeln nichts an den Ursachen von Armut mitten im Reichtum. Und damit sichern sie sich ihre eigene Existenz - dies gilt es anlässlich des ‚Jubiläums' zu überdenken. Die Tafeln trifft dafür aber keine Schuld. Sie verweisen auf das Versagen der Politik, die „Armut made in Germany" produziert und dann in ein Freiwilligensystem exportiert. 20 Jahre sind der Beweis dafür, dass man mit Schirmherrschaften für Tafeln und Freiwilligenmanagement Armut nicht sozial nachhaltig bekämpfen kann.
Werden hier zwei Problematiken zusammengeführt (Entsorgung noch brauchbarer Lebensmittel sowie die Nöte von Bürgern in prekärer Situation), in der Hoffnung, das eine Problem könne das andere aus der Welt schaffen?
Auffallend ist die Modifikation der zentralen Legitimationsfigur der Tafeln innerhalb einer großen Allianz der Lebensmittelretter. Von der frühen Figur einer sozialen Strategie (Hilfe für Wohnungslose) haben sich die Tafeln verabschiedet und setzen verstärkt auf eine ökologische Strategie, innerhalb derer sie sich als Umweltbewegung stilisieren. Problematisch ist, dass diese Legitimation auf falschen Annahmen und einer problematischen Verknüpfung von zwei nicht miteinander verbundenen Phänomenen basiert. Inzwischen konnte belegt werden, dass es durchaus keine alarmierende Lebensmittelverschwendung gibt, wie immer wieder behauptet wird. Auch lässt sich Armut nicht ursächlich durch Lebensmittelspenden abschaffen. Eine Reduzierung der Überflussmenge bei Lebensmitteln führt überhaupt nicht zu einer Senkung der Armutsquote. Die Tafelbewegung basiert also auf einer fragilen Grundannahme. Die für die Lebensmittelindustrie imagefördernde und kostensparende Entsorgung der Überschüsse durch die Tafeln löst aber weder das Überschuss- noch das Armutsproblem ursächlich.
Sie sind als Kritiker der Tafelbewegung bekannt. Worin liegt Ihrer Ansicht nach das Hauptproblem dieser Form der Hilfestellung?
Tafeln sind weder sozial noch nachhaltig, auch wenn sie mit solchen Etiketten versehen werden. Tafeln sind vielmehr Ausdruck eines schleichenden kulturellen Wandels. Sie sind ein Beispiel für sog. ‚Shifting Baselines', d.h. sich langsam verändernder Orientierungsrahmen. Sie zeigen, wie sich der kulturelle Rahmen dauernd und in derart kleinen Schritten verändert, dass dies meist unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleibt. Innerhalb der Tafelbewegung passen sich Werthaltungen und Standards flexibel der Praxis des eigenen (Nicht-)Handelns an. So kommt es immer wieder zu kollektiven Versäumnissen, die langfristig Folgen nach sich ziehen. Erstens ist für diese schleichenden Veränderungen die unhinterfragte Annahme von Sachzwängen verantwortlich. Diese vereiteln das Denken in Alternativen und ziehen eine Akzeptanz von Tafeln als Vereinfachungs- und Entlastungsstrategien nach sich. Zweitens werden schleichende Veränderungen durch gruppendynamische Prozesse stabilisiert.
Die eigene Wahrnehmung wird immer wieder mit ähnlich denkenden Personen abgeglichen. Es verwundert daher nicht, dass sich rund um die Tafelbewegung "Überzeugungsgemeinschaften" herausgebildet haben, die sich wechselseitig in ihren Ansichten bestätigen. Und diese Hauptansicht lautet (aus meiner Sicht): Es ist heute einfacher (und besser) öffentliche Akzeptanz für symbolische Armutslinderung zu erhalten, als Legitimation für echte (d.h. nachhaltige) Armutsbekämpfung. Oder anders: Engagementpolitik ist Engagement statt Politik. [...]. Weiterlesen: Siehe Link "Zum Original".
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