Im Jahr 2004 sortierte das IOC die Leipziger Olympiakandidatur für 2012 aus. Doch bis dahin verschaffte die Bewerbung der Stadt einen Schub.
Ob sich anno 2015 die Passanten am Leipziger Cottaweg noch an die Visionen von 2003 erinnern? Hier, wo die Fußballer von RB Leipzig trainieren und derzeit das neue Nachwuchsleistungszentrum entsteht, hätte das Olympiastadion für 2012 errichtet werden sollen. 82 000 Plätze. Und am Lindenauer Hafen, vier Kilometer Luftlinie entfernt, sollte das Olympische Dorf entstehen; dieser Tage wird dort mal wieder ein neues Wohngebiet projektiert. Zu Anfang der Nuller Jahre träumte ganz Leipzig von Olympischen und Paralympischen Spielen - ein Großteil der 500 000 Einwohner wollte die Spiele. Leipzig wollte das "Lillehammer des Sommers" werden, die sommerliche Wiederholung jener vielgepriesenen norwegischen Winterspiele von 1994, bei denen die Wege kurz und alle Beteiligten glücklich waren: Sportler, Zuschauer, Funktionäre, Reporter.
"Es wäre charmant gewesen, eine überschaubare Stadt für Olympische Spiele fit zu machen. Das hätten wir auch hingekriegt", sagt Dirk Thärichen. Der 45-Jährige war damals Geschäftsführer der Olympia-Bewerbungs-GmbH, ehe er Ende 2003 wegen seines Wehrdienstes im MfS-Wachregiment Feliks Dzierzynski und - letztlich ergebnislosen - Ermittlungen wegen Untreue aus dem Amt gedrängt wurde.
Doch allzu lange durften Thärichen und die Leipziger nicht von einem Weltsportspektakel in ihrer Heimatstadt träumen. Im deutschen Vorausscheid hatte sich Leipzig im April 2003 zwar überraschend gegen die Konkurrenten Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt (Rhein-Main-Gebiet) und Stuttgart durchgesetzt. Doch schon den offiziellen Status einer olympischen Bewerberstadt erlangte Leipzig nie. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) ließ damals die Gastgeberfähigkeiten der insgesamt neun (!) Bewerberstädte von einer Kommission evaluieren, um die besten Fünf jeweils zur "Candidate City" zu ernennen. Leipzig wurde Sechster und schied im Mai 2004 aus: Nix da Sommer-Lillehammer! Das IOC stellte die Weichen auf Gigantismus à la London, Rio, Tokio.
Leipzigs chancenlose Bewerbung, vor allem bei den Punkten "Infrastruktur" und "Beherbergung" schnitt Leipzig in der IOC-Evaluierung schlecht ab, wurde auch wegen der Skandale um die Bewerbergesellschaft als peinliche Posse abgetan. Doch was hat die Bewerbung der Stadt gebracht? Würden Berlin oder Hamburg womöglich davon profitieren, zumindest als Kandidatenstadt für 2024 ins Rennen zu gehen?
Alle, die in Leipzig damals dabei waren, sind sich sicher, dass eine Bewerbung neuen Schwung bringt. "Ich würde Berlin oder Hamburg immer eine Olympiabewerbung empfehlen. Allein sich in dieses Bewerberrennen zu begeben, ist immer positiv", sagt Thärichen. Während einer Bewerbungsphase profitiere die Kandidatenstadt enorm, weil Land und Bund für ein Großprojekt dieser Art viel eher Steuermittel zur Verfügung stellen.
Allerdings sind detaillierte Kosten-Nutzen-Rechnungen schwierig, da eine Olympiabewerbung aus mehreren Töpfen finanziert wird. Üblicherweise gibt es bei Olympischen Spielen einen Bewerbungsetat, der im Fall von Leipzig von Kosten in Höhe von 31,5 Millionen Euro ausging. Der zweite, zumeist deutlich größere Teil sind die Infrastrukturausgaben, von denen die Olympia-Promoter stets behaupten, dies seien Ausgaben, die sowieso anstünden.
Vor allem das seinerzeit beschlossene Sofortprogramm von Bund, Land und Stadt in Höhe von mehr als 308 Millionen Euro kam der Stadt zugute. Zwar wurde diese Summe wegen des frühen Ausscheidens aus dem Bewerbungsprozess nicht komplett ausgeschöpft, aber wenigstens 100 Millionen Euro flossen direkt in das Leipziger Straßen- und Tramnetz sowie die Sportstätten Nordanlage (u.a. Judo und Leichtathletik) und den Kanupark Markkleeberg.
"Die Stadt hat ganz gewaltig profitiert", sagt Siegfried Schlegel, der seit 1991 im Leipziger Stadtrat sitzt und bei der Linksfraktion als Sprecher für Stadtentwicklung und Bau fungiert. Vor wenigen Tagen erst sei ein Projekt abgeschlossen worden, dass es ohne die Olympiaidee vermutlich nicht gegeben hätte, sagt er: "Die Flussfreilegung vom Karl-Heine-Kanal zum Lindenauer Hafen - das ist ein 670 Meter langer Kanal, von dem hier seit 50 Jahren geträumt wird. Jetzt haben wir ihn."
Auch Jochem Lunebach, Leiter des Stadtplanungsamtes Leipzig, sagt, so ein gemeinsames Ziel könne in einer Verwaltung beachtliche Dynamik auslösen: "Ein so großes gemeinsames Projekt erzeugt eine Aufbruchstimmung, die eine interne Kommunikation ermöglicht, die sonst nie über einen längeren Zeitraum möglich wäre." Natürlich sei es schwer zu bestimmen, welche Projekte auch ohne das Olympia-Schaulaufen sowieso verwirklicht worden wären.
Von den Kosten für Baumaßnahmen und Planungen sollte die Stadt Leipzig wegen einer Sondervereinbarung mit der Städtebauförderung nur etwa zehn Prozent übernehmen, üblicherweise sind es 20 bis 33 Prozent, die eine Kommune zu berappen hat. In einem Aufsichtsratsprotokoll vom Oktober 2003 wird die Beteiligung der Stadt Leipzig am 308-Millionen-Sofortprogramm mit 32,5 Millionen Euro beziffert. Christoph Hansel, seinerzeit Leiter des Olympiabüros der Stadt Leipzig, sagt: "Was die Infrastruktur angeht, hat Leipzig damals einen Sprung um 10 bis 15 Jahre gemacht."
Zum zweiten Investitionstopf, dem reinen Bewerbungsetat, hat Leipzig während der nationalen Bewerbungsphase (2001 bis 2003) etwa eine Millionen Euro zum fünf Millionen Euro großen Etat beigesteuert. Den Rest trugen Sponsoren und der Freistaat Sachsen. Die Kosten der internationalen Phase der Bewerbung beziffert der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) mit etwa 7,5 Millionen Euro: Der Freistaat war mit 4,7 Millionen dabei, die Stadt mit 2,5 Millionen, während die Hansestadt Rostock 350 000 Euro übernahm. Vor Rostock-Warnemünde sollten nach dem damaligen Konzept die olympischen Segelwettbewerbe ausgetragen werden.
"Insgesamt war es für die Stadt Leipzig eine zweijährige Marketingkampagne, die kostengünstiger nicht zu bekommen ist", sagt Thärichen. "Uns hat jeder bestätigt: Für so wenig Geld so einen Nutzen zu erreichen, war fantastisch." Ein Insider aus der Leipziger Stadtverwaltung behauptet sogar, dass in Leipzig später niemand ein Interesse gehabt habe, mit der Kosten-Nutzen-Rechnung zu prahlen: Die Stadt habe so unverschämt von der Bewerbung profitiert, dass es den Stadtoberen schon fast peinlich sein musste, die Zahlen gebündelt vorzuzeigen.
Zyniker behaupten, das Ziel der von Beginn an aussichtslosen Leipziger Olympiabewerbung sei ebendies gewesen: Steuermittel abzuschöpfen, um die Stadt voranzubringen. Dafür setzte sich der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee bei der Ernennung zur deutschen Kandidatenstadt dann schon mal selbst ans Cello.
"Im Nachhinein", sagt Dirk Thärichen allerdings, "war es nicht klug, die Olympiabewerbung mit Steuergeld zu finanzieren." Zumindest den Bewerbungsetat hätte man besser mit Großsponsoren realisieren sollen, findet er heute. "Sonst gibt es in der Bevölkerung immer Kritik, ob öffentliche Gelder richtig eingesetzt werden." Leipzig habe damals aber keine andere Wahl gehabt - mangels starker Partner aus der Wirtschaft.
Thärichen glaubt, mit dem deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach dürfen sich die Millionenstädte Hamburg oder Berlin bessere Chancen ausrechnen als einst Leipzig. "Mein Tipp ist, dass die deutsche Bewerberstadt 2024 noch mal in die Ehrenrunde gehen muss und dann 2028 die Olympischen Spiele bekommt."
Ist also mindestens einem deutschen Bewerber ein bedeutender Infrastrukturschub sicher und eine gigantische Imagekampagne wie einst Leipzig? Mitnichten. Zum einen sind beide Städte selbst Bundesländer, was aus einer dreigeteilten Finanzierung schon mal eine zweigeteilte macht. Zum anderen geht die Rechnung wohl nur auf, wenn am Ende der Bewerbung auch eine Niederlage steht. Kaum vorstellbar, dass die Leipziger heute noch von einem guten Geschäft reden würden, hätten sie heute all die Olympiabauten zu unterhalten, die damals angedacht waren. Allein der Gedanke, dass in Leipzig heute unweit der "RedBull Arena" (44 345 Plätze) auch noch ein Olympiastadion mit 82 000 Sitzen stünde, dürfte vom Schwärmen abhalten.