Von Uli Kreikebaum
Als sich die Tür zum Hintereingang des früheren Gestapogefängnisses im EL-DE-Haus schließt, hastet Michael Emge zurück und rüttelt am Knauf. Die Tür geht nicht auf. Was tun? Der eben noch gelassen blickende Mann hat jetzt wieder diese Angst in den Augen, die Erinnerung an ein Grauen, für das Bilder und Texte nie ausreichen können.
Als er im Gang steht, mit flackrigem Blick, und der Auslöser der Kamera wieder und wieder klickt, drängen Zweifel sich auf: Darf man das? Den letzten in Deutschland wohnenden Überlebenden von Schindlers Liste vor den Zellen fotografieren? Um dann mit ihm den Film zu gucken, der im November 1993 in die Kinos kam, der ihn verstörte und sein Leben verwandelte? Macht man den Überlebenden damit zur Marionette, zum „Holocaust-Clown", wie es der Schriftsteller Imre Kertesz empfand?
Oder rechtfertigt der Zweck - möglichst vielen davon zu erzählen - die Mittel? Wie steht es um die Gesundheit des 84-Jährigen, der dreimal pro Woche zur Dialyse muss, beständig zittert, weil er mit Parkinson lebt, und mehr bebt, wenn er aufgeregt ist?
Eine Leitung knarzt und kreischt; Emge zuckt zusammen. Der Museumswärter summt ein Lied. Gesummt und gesungen hat Emge auch immer, gegen den Wahn. Schnell hoch, ans Licht. Langsam geht er und sehr aufrecht. Die Türen sind offen. Wie zu Hause, nie schließt er eine Tür.
„Wenn es nicht in Ordnung wäre, würde ich es nicht machen", sagt Emge, im Konferenzraum des EL-DE-Hauses angekommen. Er spricht mit schlesischem Akzent, kurzen Vokalen und gerolltem R, heiser, hell und nicht leise, sein Gegenüber fixierend. Nur wenn ihn die Erinnerung einholt, geht der Blick an der Schulter vorbei in den Raum. 25 schwarze Lederstühle, hölzerner Konferenztisch.
Der Film beginnt mit Geigenmusik von Itzhak Perlman.
Emge war als Junge selbst ein begabter Geiger. Im KZ Plaszów durfte er nicht spielen. Vier Mal hat er „Schindlers Liste" gesehen in 20 Jahren. Oskar Schindler hat 1100 Juden das Leben gerettet, indem er sie in seiner Emaillewarenfabrik arbeiten ließ und die Nazis bestach. Gestört hat Emge die Überhöhung Schindlers, die in eine tröstliche Identifikation mit dem Judenretter gemündet hätte.
Emge hustet trocken. „So war er. Ein Schuft, der nur Alkohol, Geld und Sex im Sinn hatte. Und einer, der die Nazis fantastisch manipulieren konnte, indem er sie bestach und ihnen Honig ums Maul schmierte. Er hat sein Leben riskiert. Aber der Film hat Schindler zum Märtyrer gemacht, und das war er nicht. Er wollte am Anfang einfach nur reich werden. Und dazu konnte er uns gut gebrauchen."
Die Erinnerung muss stimmen. Jedes Wort ist wichtig.
Immer wieder ist in der Geschichtsschreibung von KZ-Häftlingen die Rede. „Aber wie hätte ich als 13-Jähriger ein Häftling sein können?" Besser also: „Insasse." Seine ganze Familie, 65 Menschen, haben die Nazis umgebracht. Nur ein Onkel und er überlebten. Wenn Emge nach dem Krieg die Wörter „Wiedergutmachung" oder „Entschädigung" hörte, „habe ich mich übergeben". 1969 erhielt er 27.000 Mark, nach jahrzehntelangen Bürokratiegefechten. 127.000 Reichsmark und ein Haus hatten seine Eltern besessen - nur konnte der 15-Jährige das nicht beweisen.
Emge hat nach dem Krieg in Polen Musik studiert, bevor er nach Köln kam. Hier arbeitete er als Musiker und Barmixer, zuletzt bei Karstadt, bis er 75 und der Körper krank war. Seitdem lebt er von Grundsicherung. Die Rente reicht nicht, auch die sogenannte Ghetto-Rente nicht, die er seit ein paar Jahren erhält. 169 Euro sind das bei ihm. Sozialhilfe plus 169 Euro, als: „Entschädigung".
„Ich habe die Szene gesehen, vom Fenster der Fabrik aus. Und mir in die Hose gemacht vor Angst." Emge schluckt, die altersfleckige Hand schlägt zuckend gegen den Tisch. Täglich musste er an Göths Balkon vorbei. Wenn er den Massenmörder mit dem Gewehr in der Hand sah, wartete er ab, bis der weg war, und rannte zum Hundezwinger. Der SS-Mann Franz Müller hatte veranlasst, dass Emge auf die Tiere aufpasst - Doggen, die darauf abgerichtet waren, Insassen zu töten. Emge stand daneben, als die Hunde einen Jungen zerfleischten. Ihn selbst rührten die Doggen im Zwinger nicht an, weil er dann Müllers Schäferhund Rex dabeihatte. Auf den Schäferhund hatte er schon in einem anderen Ghetto aufpassen dürfen. „Müller hat wohl auch dafür gesorgt, dass ich auf die Liste komme." Doggen und Schäferhund haben in seinen Träumen überlebt. Wie alles immer wiederkommt.
Er sei ausgewählt aus seiner Familie, um zu überleben, hat er im Nichts nach dem Krieg gedacht. Also heiratete er, gründete eine Familie, arbeitete - und fragte sich doch immer wieder: Warum? Köln war zufällig sein Zuhause geworden: Er sollte in einem NS-Prozess in Düsseldorf aussagen und wollte weiterreisen zu seinem Onkel nach Australien, wurde aber krank. Heimat wurde Köln ihm nie: „Ich weiß nicht, was das ist: Heimat." Mit seiner Geburtsstadt Krakau verbindet er Vertreibung, den Beginn des Alptraums, zu Israel habe er kaum Verbindung: Acht Jahre hat Emge nach dem Krieg dort gelebt. „Die Menschen in Israel haben mich gefragt: Was hast du dafür getan, nicht ins Gas zu gehen? Wen hast du dafür verraten?" In Köln blieb er gefangen in der Erinnerungsblase des Bösen, immer wieder neu traumatisiert von Behörden und Begegnungen.
Als Emge das Lied und die Schreie der Mütter hörte, empfand er nichts. Jetzt weint er. „Man sieht nicht, wie sie mit Maschinengewehren in die Menge der Mütter geschossen haben." Seine Stimme bricht. Man sieht so vieles nicht. Emilie Schindler, die Frau des Helden, spielt im Film nur eine Nebenrolle - dabei sei sie es gewesen, die die Fabrikarbeiter mit Essen versorgt habe. Man sieht auch die Narben nicht. Er krempelt die Hose hoch und zeigt auf eine Maserung. Ein KZ-Arzt hatte eine Dose mit Läusen ans Bein gebunden, die Tiere fraßen sich ins Fleisch.
Der Film, sagt er, habe ihm „trotz aller Inszenierung und einiger Fehler neuen Lebensdrang und Sinn gegeben". Als bei Biolek und Jauch nach der Premiere Zeitzeugen auftauchten - meist Kinder von Menschen, die auf der Liste standen -, rief er in den Redaktionen an. „Ich stand selbst auf der Liste und lebe in Köln. Warum laden Sie mich nicht ein?" „Kann ja jeder sagen", habe ihm ein Redakteur geantwortet und aufgelegt. Da kochte Wut in ihm hoch.
Emge schrieb dem jüdischen Schriftsteller Ralph Giordano und schilderte ihm seine Ohnmacht. „Sie müssen selbst an die Öffentlichkeit gehen, sonst ändert sich nichts", schrieb Giordano zurück. Emge ging nun an Schulen und berichtete. Traf eine junge Geigerin und erzählte ihr sein Leben; die Journalistin Angela Krumpen schrieb das Buch „Spiel mir das Lied vom Leben" darüber. In Schulen erlebte er Wogen der Rührung und des Schweigens. Wenn Menschen, ob sie 14 oder 54 sind, über ihre Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden sprechen, erzählen sie, wie viel bewusster ihnen das Böse seitdem ist.
Das Böse tauchte auch in Köln wieder auf. Nach seinen ersten Auftritten riefen Nazis bei Emge an und schrien: „Jude verrecke!" Auf seinen Anrufbeantworter sprach einer: „Wir wissen, wo du wohnst. Wenn du auf die Straße gehst, wirst du liquidiert." Die Polizei riet ihm zu Umzug, Geheimnummer und Namenswechsel. Mitte der 1990er Jahre konnte sich ein Mensch mit jüdischen Wurzeln in Köln nur selbst schützen. Dreimal wechselte er die Wohnung. Und legte sich einen anderen Namen zu. „Ich habe nie daran gedacht, nicht mehr zu reden. Das ist meine Aufgabe." Sein Sohn Gregor ist einer von über 6000 Nachkommen der Schindler-Juden. Er hat seinen Vater erst nach dem Film ausgefragt. Der hatte bis dahin geschwiegen. Nie hatte Michael Emge einen Psychologen. Seiner Frau hat er erst zehn Jahre nach der Hochzeit erzählt, dass sein Vater Jude war und seine Mutter Katholikin. Sie ist eine der wenigen Menschen, denen er traut. Heute pflegt er sie.
Seine Mutter kam nicht aus dem Zug, er konnte das nicht begreifen. Er war nun mutterseelenallein. Die Erde hatte keinen Boden mehr, der Mond war ein fauler Käse, die Sonne bloß noch Grabeslicht. Erst 23 Jahre nach Auschwitz erfährt er, dass seine Mutter krank war, als die Namen von der Liste verlesen wurden. Eine andere Frau meldete sich - und wurde gerettet.
Emge weint. Schwankend steht er auf. Draußen blendet die Sonne, der Spätherbsttag ist ungewöhnlich warm. Menschen kommen mit vollen Tüten aus dem Elektromarkt. Auf einem Zeitungskasten steht „Falsche Leiche verbrannt", auf einem Schild „Verein für Deutsche Schäferhunde". Der Film ist nicht zu Ende. Michael Emge wird seine Geschichte weiter erzählen. „So lange ich lebe."
Michael Emge, der eigentlich Jerzey Gross hieß, starb am 24. Juli in Köln.