Ein Platz irgendwo in Köln, 90 Minuten Zeit, um Leute zu beobachten, zuzuhören, aufzuschreiben: Die erste Folge unserer Serie „Momentaufnahme" führt uns ins Belgische Viertel, auf den Brüsseler Platz.
Wer macht das nicht gern: hinsetzen, Leute beobachten, Geschichten spinnen. Unsere Fotografin Martina Goyert und Autor Uli Kreikebaum gucken nicht nur. Sie hören zu, schreiben auf, fragen nach, was passiert. Das Spiel dauert 90 Minuten, irgendwo in Köln. Kein Moment kommt wieder, jeder lässt sich festhalten. Das ist die Idee hinter der Serie „Momentaufnahme".
11.05 Uhr - Vor der Terrasse des Cafés Hallmackenreuther massiert ein großer Mann mit Sonnenbrille einem kleinen Mann mit Sonnenbrille den Rücken. Der Massierte verzieht das Gesicht permanent zu einer Grimasse. Jetzt schreit er: „Nicht so fest!" Der Große lacht. Die meisten Stimmen der Menschen und Vögel werden vom Lärm einer Kehrmaschine geschluckt, die vor der Kirche St. Michael die Überbleibsel der Nacht beseitigt.
Die Speisekartenhalter der Tische sind nummeriert. An Tisch 15 sitzen zwei ältere Paare, die nicht bemerkt zu haben scheinen, dass es warm ist. Alle vier tragen Wollpullover und Jacken. An den anderen Tischen nur Leute in T-Shirts oder Tops. An Tisch 7 beugt sich eine junge Frau über ihr iPhone. Sie isst Früchtemüsli und wischt mit dem manikürten Zeigefinger übers Display. Zwischendurch guckt sie in einen Ordner. Für eine Minute bleibt ein Joghurtklecks unter ihrem Mundwinkel haften. Dann wischt sie ihn weg, ohne vom Handy aufzuschauen.
11.24 Uhr - Eine Taube läuft mit wippendem Köpfchen übers Pflaster und zertritt Platanenblätter. Sie pickt eine Zigarettenkippe auf und spuckt sie wieder aus. Die Taube geht eiernd, sie ist deutlich zu dick. Die Taube ist das einzige Wesen auf dem Platz, das zu dick ist. Die jungen Menschen an den Tischen sind alle schlank, ein paar tragen Tätowierungen auf den Armen oder im Nacken, sie sehen rosig aus und sorgenfrei. Wahrscheinlich sind auch die Amseln hier sorgenfreier als in Chorweiler oder Buchheim, und die Tauben dicker.
11.28 Uhr - Ein paar Meter hinter der Taube läuft ein Mädchen. Sie heißt Cosima, ist 16 Monate alt und zelebriert einen Tag, an den sie sich später nicht erinnern wird und der doch ein Meilenstein ist: Sie läuft den ersten Tag ohne Hand! Cosima hebt einen Reissdorf-Kronkorken auf und probiert, wie er schmeckt. Er schmeckt nicht, sie spuckt ihn wieder aus. Ihre Mutter Ariane hat das nicht gesehen. Sonst sieht sie alles, was Cosima macht. Ariane und ihr Mann haben bisher keinen Kindergartenplatz für Cosima gefunden, „deswegen sind wir oft hier. Cosima bekommt gleich Mittagessen, der Koch bringt es persönlich. „Reishähnchen mit Gemüse gut durch".
11.36 Uhr - Vor dem Essen läuft Cosima zu zwei Frauen, die Stifte in der Hand haben und ein Mädchen zeichnen. Tamara Flowill und Kane Kampmann machen Tuschezeichnungen von Kanes Tochter Maria, die sich eigentlich hier nur mit ihrer Freundin Lisa treffen wollte, um in die Stadt zu gehen. Cosima nimmt sich einen Bleistift und kritzelt in Kanes Block, Kane macht das nichts aus. Kane und Tamara wollen den ganzen Sommer über malen und dann eine Ausstellung mit dem Namen „Summer" oder „Summertime" machen. Die beiden sagen, sie hätten mit ihren Bildern genug Geld verdient, „ich habe auch Fälschungen gemacht, als Auftrag. Von Picasso, Gauguin und den alten Meistern", sagt Kane Kampmann. „Ich habe viel die Impressionisten nachgemalt, Monet und so, und viel für Film und Fernsehen", sagt Tamara Flowill.
Wahnsinn: Künstler, die genug verdient haben und machen können, was sie wollen. Wobei „genug verdient" natürlich relativ ist. Was für die einen wenig, ist für andere viel. Die zwei leben für die Kunst.
11.52 Uhr - Kane und Tamara können gleichzeitig zeichnen und reden. Im Sommer fahren sie nach Italien und Spanien, um dort weiter Sommerbilder zu malen. „Aber am Brüsseler Platz ist es ein bisschen wie im Süden, deswegen bin ich oft hier", sagt Kane. Tamara will jetzt doch ihren Bleistift von Cosima wiederhaben. Die Frauen wechseln von der Mauer an einen Tisch. Die weißen Eisenstühle haben rot-, grün und blau-weiß gestreifte Plastiküberzüge, wie in Italien.
11.59 Uhr - Die große, hübsche Kellnerin, die gerade bei der jungen Frau mit iPhone kassiert, trägt einen kurzen Rock, auf dem Oberschenkel ist eine Schmetterlingstätowierung zu sehen. Die zweite Kellnerin ist auch groß und hübsch. Sie hat ein weites weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt an. Wenn sie die Bestellung aufnimmt und sich ein bisschen bückt, kann man relativ viel sehen. Von den zwei Studenten, die gerade zahlen, guckt der eine direkt hin und lächelt, der andere guckt direkt weg und lächelt. Die Kellnerin lächelt auch.
12.02 Uhr - An Tisch 5 unterhalten sich Clara und Fabian. Sie studieren Philosophie und haben sich erst kürzlich kennengelernt. An der Uni läuft gerade ein Workshop zur Verbesserung des Studiums. Clara und Fabian wollen sich lieber besser kennenlernen.
12.16 Uhr - Sieben Tische sind besetzt, die Kehrmaschine dröhnt jetzt seit über einer Stunde über den Platz. Es stört niemanden. Vielleicht denken die Tiefenentspannten, der Maschinenlärm sei Meeresrauschen. An Tisch 13 blättert ein Pärchen in Zeitschriften. Stefan (28), Student der Fahrzeugtechnik, und Emely (20), die noch nicht weiß, was sie machen soll, sind seit einem Jahr ein Paar. Sie waren bis gestern bei einem Musik-Festival in Berlin und überlegen, ob sie nach Berlin ziehen sollen. Sie haben Couchsurfing gemacht - Leute stellen sich dabei gegenseitig kostenlos Wohnungen zur Verfügung - und hatten ein Zimmer für sich. „Berlin ist cool, auch schöner, aber Köln ist persönlicher und netter", findet Emely, die aus Köln kommt. Findet Stefan aus München auch.
Stefan liest die Zeitschrift Capital, Emely den Draußenseiter. Die Frage nach dem Befinden hätte man sich sparen können. Berlin war super, Wetter ist super. Sie sind verliebt.
12.19 Uhr - Auch der Mann an Tisch 9, der in dem Buch „Die lebendige Gemeinde" liest, sieht entspannt aus. Als ihm der Kaffeelöffel auf den Boden fällt, findet er ihn nicht wieder. Der Löffel ist fast bis zu Tisch 8 geflogen! Marcel ist 34, hat drei Kinder und macht eine Ausbildung zum Pastor. Er gehört zur freichristlichen Gemeinde in Porz, sein Leben hat er Jesus gewidmet. „Seit Jesus mich gerettet hat, geht es mir gut", sagt er. Wie Jesus das gemacht habe? „Jesus hat meine Leiden bezahlt und für meine Schuld gebüßt", sagt Marcel. „Durch meinen Glauben wird das, was Jesus gemacht hat, in mir wahr."
Vom Verkäufer der Obdachlosenzeitung kauft außer Emely keiner was. Der Zeitungsverkäufer huscht genauso unauffällig wieder weg wie der junge Flaschensammler mit der Nickelbrille, der nichts gefunden hat in den Mülltonnen.
12.26 Uhr - Neben Marcel hat sich an Tisch 11 ein sportlicher Kerl mit Shorts und Muskelshirt niedergelassen und sein Laptop aufgeklappt. Lars ist 21 und Anwaltsgehilfe. Er raucht eine Zigarette und schreibt eine Stellungnahme für seine Kanzlei. „Wenn das Wetter gut ist, arbeite ich manchmal draußen, das Büro ist gleich da vorne", sagt er.
Zwei Meter neben ihm stakst die dicke Taube und hinterlässt einen Flatschen auf dem Pflaster. Marcel sieht das nicht, er sieht auch nicht, dass Tamara und Kane ihn zeichnen. Den Ausschnitt der hübschen Kellnerin sieht er beim Bezahlen schon. Lächelnd geht er zurück ins Büro.