und Martina Goyert (Bild)
15.10 Uhr - Vor der Post sitzt ein Mann mit sauber gestutztem Bart und Brille auf einem Stromkasten. Er trägt Lederschuhe und ein weißes Hemd. Auf seiner Jacke liegt eine Staubschicht, das Gesicht ist tiefbraun. Der Mann stellt sich als Ralf S. vor. Er sagt seinen ganzen Namen, aber der muss nicht in der Zeitung stehen. „Ich bin Steuerberater und habe drei Eigentumswohnungen. Bloß die Trennung von meiner Frau nach 30 Jahren Ehe ist teuer gewesen." Neben S. liegt eine Edeka-Plastiktüte. Darin befinden sich der „Kölner Stadt-Anzeiger", Bewerbungskladden und der Roman „Englischer Harem". „Schlimme Geschichte, ganz viel Sex. Ich selbst habe auch mal Sex gehabt, und da ist dann meine Tochter draus geworden."
Er warte auf seine Freunde, sagt S. Dann erzählt er, dass seine Freundin in der Nacht vom 23. auf den 24. September 2012 zwei Straßen weiter totgefahren worden ist. „Sie wollte nur zum Kiosk gehen. Als ich zwei Stunden später in die Wohnung kam, war sie nicht mehr da." Seitdem habe er immer ein Paderborner Pilsener in der Hand. „Ich habe drei Tage durchgesoffen und bin dabei geblieben." Arbeiten und Alkohol, das gehe nicht zusammen. „Schlimme Geschichte."
15.17 Uhr - Bei Mesut Aktürks Imbiss Nimet Chicken gibt es kein Bier. Mesut begrüßt seinen Stammkunden Kazem. Küsschen links, rechts. Mesut hat die Namen seiner Töchter auf seine Unterarme tätowieren lassen, „weil sie das Wichtigste für mich sind". Die Geschäfte könnten besser laufen. „Es soll ein Biergarten in die Post kommen, das wäre auch für den Imbiss gut."
15.21 Uhr - Als Mesut reingeht, um einen Chicken-Burger zu machen, kommt eine zierliche Frau auf uns zu und fragt, ob wir vegane Fruchtkügelchen kaufen wollen. Elena Svitkina ist seit fünf Monaten in der Stadt unterwegs, um vegane Kügelchen zu verkaufen. Sie kommt von der Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein in Gremberg. Für die veganen Kügelchen bittet sie um eine Spende, egal wie viel. Drinnen hat ein gut genährter Mann seinen Chicken-Burger entgegengenommen. Er beißt rein, bevor er rauskommt.
15.24 Uhr - Milan kommt mit einem vollen Wäschekorb über den Platz. Er wohnt in einer WG in der Robertstraße 1, Blick auf die Post, und hat es eilig, weil er Spinat und Rühreier auf dem Herd gelassen hat. Milan studiert Pädagogik und gibt Klavierunterricht. In der WG wohnen sie zu sechst. „Viel günstiger als in der Innenstadt", sagt Milan. „Und in Kalk ist auch viel los."
15.31 Uhr - An der Kalker Hauptstraße hält ein Polizist mit Motorrad einen Fiat mit italienischem Kennzeichen an. Ein Polizeiauto kommt dazu. Eine Polizistin zieht Gummihandschuhe an und inspiziert den Motorraum. Aus dem Auto steigen ein Mann im Anzug und eine Frau im Minirock. „Ich werde auch ständig von der Polizei angeredet", sagt Ralf S., der die Szene beobachtet. „Einmal hat man mich drei Tage eingebunkert, weil sie dachten, ich hätte den Karstadt überfallen. Ich war es aber nicht."
15.55 Uhr - Auf der Terrasse der Bäckerei auf der Ecke sitzen Theodor Menke, dessen Schwiegermutter Ursuline Pink und Anwalt Günther Flaskamp. Flaskamp teilt sich eine Kanzlei mit Menkes Anwalt Christof Miseré. Theodor Menke hat zwei Plakate beschrieben, vor deren Lettern immer wieder Menschen stehenbleiben. Menke prangert auf den Plakaten einen Richter und eine Ministerin an, die er der Prozessmanipulation bezichtigt. Menke ist seit sechs Tagen hier. Er hält zwei Kassetten hoch und sagt: „Die sind Gold wert. Das ist ein Krimi." Flaskamp sagt, es gehe um einen Mietprozess. Menke hatte wegen Mietmängeln geklagt, Schimmel, undichte Fenster. „Meine Schwiegermutter ist in der Wohnung krank geworden." „Ich bin leber- und lungenkrank und habe Asthma, alles wegen der Wohnung", sagt Ursuline Pink mit rauer Stimme. Das Gericht sah das anders. Menke sagte dem Richter ins Gesicht, er habe Alzheimer und leide unter Gedächtnisschwund - der Richter zeigte ihn daraufhin an. Es wird seit Jahren prozessiert.
Auf einem Plakat prangert Menke auch den eigenen Anwalt an. Der habe einen „Muskelmann" angeheuert, um ihm zu drohen. „Wahnsinn." Als der so Diffamierte auf dem Platz erscheint, unterhalten die zwei sich angeregt. „Wir sind da ganz kulant", sagt Anwalt Miseré.
16.03 Uhr - Hinter Menkes Plakat liegt ein dicker runder Stock auf dem Pflaster. Warum drängt sich der Gedanke an einen Totschläger auf? Weil wir in Kalk sind? Weil in der Kneipe eben zwei Tätowierte über einen Kumpel sprachen, der im Knast sitzt? Weil die Sekretärin, die eben mit erstaunlichen Absätzen vorbeigehuscht ist, gut in einen Hollywoodfilm passen würde? Kopfklischees.
16.17 Uhr - Bennaaziz Jahjouh, seine Frau Gülten Hamidanoglu und Tochter Henna halten vor Menkes Plakaten. „Habt ihr das geschrieben?", fragt Bennaaziz. Nein. „Oft verstricken sich da Leute rein, die irgendwie Recht haben, aber nicht mehr rauskommen aus der Sache", sagt Bennaaziz. Bennaaziz und Gülten haben Henna aus der Kita abgeholt, Kirschen und Brot gekauft. Gülten ist Fotografin, Bennaaziz macht eine Ausbildung zum radiologischen Assistenten. „Ich bin Groß- und Außenhandelskaufmann, aber das war mir zu glatt, das war ich nicht", sagt er. Momente festhalten, das gefällt ihm. „Ich wollte in Kalk mal jeden Hundehaufen fotografieren und in Augenhöhe an eine Wand hängen." Die Familie zog kürzlich nach Poll.
16.33 Uhr - Es fängt an zu regnen. Eine alte Frau mit einem Koffer in der Hand bindet sich eine Plastikhaube um und stellt sich unter den Ahornbaum, dessen Krone die meisten Tropfen abfängt. Den Koffer hat die Frau gerade gekauft. „Im Angebot, sechs Euro billiger als sonst", sagt sie. Sie braucht den Koffer, weil sie nächste Woche nach Mallorca fliegt. Mit wem? „Allein." Sie guckt zu Boden und schweigt. Die Frage war ihr wahrscheinlich unangenehm. Sie geht mit dem Koffer hinaus in den Regen, obwohl der gerade stärker wird.