Yahya Hassan hat mit seiner lyrischen Wut eine breite gesellschaftliche Debatte in Dänemark entfacht. Hauptsächlich geht es dabei um Integration, konkret um die Integration von Muslimen in einer liberal-konservativen Gesellschaft, und darum, ob sich ein Einzelner, der in beiden Welten zu Hause ist, das Recht herausnehmen darf, eine derartig harsche Kritik zu üben. Seitens etlicher islamischer Vertreter lautet die Antwort: Nein. Hassan sei ein Nestbeschmutzer, er dürfe sich nicht anmaßen, derartig schonungslos gegen den eigenen sozialen Kreis zu sprechen. Zeitungen und Medien, aber auch alle Rechtspopulisten, die das Thema über die Grenzen Dänemarks tragen, meinen einhellig: Ja, das ist Meinungsfreiheit. Die Frage, die zuvor gestellt werden sollte, ist: Von welcher Seite kommt diese Kritik und was beinhaltet sie genau?
Imame im BordellHassans Gedichtband ist in Dänemark mehr als 100.000-mal über den Ladentisch gegangen und gilt als Bestseller. Seit einem Monat ist er auch auf Deutsch erhältlich. Darin geht es um seine persönlichen Erfahrungen in der Einwanderergesellschaft Dänemarks, es ist aber auch eine Anklage gegenüber seinen Eltern, allen voran seinem Vater, der an islamischen Feiertagen den frommen Gläubigen mimt, tatsächlich aber alles andere als gütig und besonnen handelt. Genauso wie es manche dänische Imame tun, die sich in Bordellen wiederfinden, um einige Tage später wieder zu predigen, kritisiert Hassan. Es sind diese zwei Gesichter, es ist dieses Opportunistische, das Hassan nicht mehr ertragen kann, weil es in seinen Augen eine Lüge ist.
Ausgeschlossener in beiden WeltenAußerhalb der Familie findet sich der junge Däne mit palästinensischen Wurzeln in einer Gesellschaft wieder, die nur wenige Möglichkeiten für seinesgleichen bietet. Hassan ist in beiden Welten ein Ausgeschlossener: Außenseiter unter den muslimisch geprägten Migranten, da er sich freiwillig dafür entschieden hat, Abstand zu ihnen zu halten, und ausgegrenzt von der dänischen Mehrheitsgesellschaft, die sich nach wie vor schwer damit tut, Menschen anzuerkennen, die der dänischen Assimilation entsagen, nicht ihresgleichen sind. Yahya fühlt sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt und ist es in der Tat auch.
Das verkommene "Gellerup", das Viertel, in dem Hassan lebte, ist so ein Rand: Es liegt an der Peripherie der Stadt Aarhus in einer Arbeitersiedlung. Gut 8.000 Menschen leben hier, davon haben ganze 88 Prozent einen Migrationshintergrund. Hier schlägt ihn der Vater regelmäßig, beschimpft ihn und seine Geschwister, behandelt seine Sprösslinge wie seine Leibeigenen. Hier fängt Hassan auch an, kleine kriminelle Geschäfte einzugehen; seine Umgebung wird von Junkies und Dealern beeinflusst.
UntergetauchtNach dem Erscheinen des Buchs muss Hassan nun vor Fundamentalisten geschützt werden, er lebt verborgen im Untergrund, begleitet von zwei Sicherheitsmännern - ähnlich erging es Aliaa Magda Elmahdy, die 2011 Nacktfotos von sich auf ihrem Blog veröffentlichte, um auf die sexuelle Belästigung von Frauen in ihrem Land Ägypten aufmerksam zu machen. Sie lebt heute in Schweden.
Berechtigte KritikVor dem Hintergrund der Lebensumstände Hassans oder Elmahdys ist es nur allzu verständlich und legitim, Erlebtes zu verarbeiten und Kritik an vorhandenen Strukturen zu üben, ohne gleichzeitig als "Nestbeschmutzer" der eigenen Gruppe gelten zu müssen - sofern dieser Begriff überhaupt jemals eine Berechtigung hat.
Denn die Lebensrealität muslimischer Jugendlicher in Europa ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Es gibt jene - es sind sogar viele -, die sich vor Diskriminierung und Rassismus und einer sogenannten Islamophobie nicht mehr schützen können - ihre Geschichten müssen an die Öffentlichkeit gelangen. Aber es gibt auch Hassans Realität, die in der medialen Debatte immer noch unzureichend diskutiert wird, wenngleich der Diskussionsbedarf hier am höchsten ist.
Es sind nicht wenige, die so denken wie der 18-jährige Hassan: Es sind junge Menschen muslimischer Prägung, die schon längst in ihrer eigenen Realität zwischen religiösem Traditionalismus und westlichem Pluralismus nur schwer hin und her manövrieren können und auf beiden Seiten Ausgrenzung erfahren. Sie leben mit mehreren Gesichtern, bekennen sich nach außen zur Tradition des Islam, um nicht als eigenartig oder gar abtrünnig abgestempelt zu werden, gleichzeitig folgen sie aber ihrer westlichen Prägung, konsumieren Alkohol und Drogen, besuchen Diskotheken und gehen etliche außereheliche Partnerschaften ein. Mit Yahya Hassan ist einer von ihnen auf die große Bühne getreten. Es mögen weitere folgen. (Toumaj Khakpour, 22.4.2014, daStandard.at)