Um Mahmoud Doulatabadis Arbeit zu begreifen, sollte man seine Lebensgeschichte kennen: Im Jahr 1940 wird er im Nordosten des Iran als Sohn einfacher Bauern geboren. Schon im Kindesalter muss er auf den dürren Feldern Khorasans an der Seite seines Vaters mit anpacken. Eine von vielen knochenharten Arbeiten, die er im Laufe seines Lebens verrichten musste, wird er später erzählen. Mit 14 Jahren leitet er seine Lebensgeschichte in neue Bahnen, er beschließt, aus der trostlosen Landatmosphäre in die gut 700 Kilometer entfernte Großstadt Teheran aufzubrechen. Nach jahrelanger Schufterei kommt er seinem Ziel näher, besucht die renommierte Theaterakademie und beginnt Stücke zu schreiben. Während der Diktatur des Schah wird er für zwei Jahre ins Gefängnis gesperrt, seine Werke werden verboten. Doulatabadis Gesellschaftsromane handeln von Liebe, Revolten, Missetätern und ihren Opfern, Trauer und großer Nachdenklichkeit - immer nah an der Geschichte des Iran.
daStandard.at: Herr Doulatabadi, Gratulation zum kürzlich erhaltenen Jan-Michalski-Preis für ihr Werk "Colonel", das Sie Anfang 1980 begonnen haben zu schreiben. Vor welchem Hintergrund entstand das Buch?
Mahmoud Doulatabadi: Danke schön. Ich glaube, dass die Auszeichnung nicht nur dem Buch "Colonel" galt, auch wenn das Werk besonders hervorgehoben wurde. Mich haben vor allem die Umbrüche aus jener Zeit inspiriert, zu denen ich mir Gedanken machte. Aber wenn man tiefer geht und mehr über diese ernste Phase erfahren will, dann könnte man dazu auch Menschen befragen, die in dieser Lage allergrößte Schwierigkeiten durchstehen mussten. Also jene, die Blut, Tod und Verderben erlebt haben.
daStandard.at: Sie haben Ihr ganzes Leben im Iran verbracht. Was sagen vor allem Iraner, die Sie im Ausland bei Ihren Lesungen treffen, zu Ihren Büchern?
Doulatabadi: Viele lesen Literatur, um nicht zu vergessen. Auch wenn Menschen ins Exil gehen, heißt es noch lange nicht, dass sie keine Verbindung zu der Vergangenheit ihres Landes haben, ihre Wurzeln werden sie nie vergessen - auch wenn es die nachfolgenden Generationen sind. Durch die Literatur bleibt diese Erinnerung aufrecht, kann gar beflügelt werden - sie hilft gegen das Vergessen.
Als ich beispielsweise nach Bosnien und Herzegowina gereist bin, konnte ich eine Nähe zur iranischen Literatur feststellen. Übrigens auch in ihrer unmittelbaren mediterranen Umgebung. Ich glaube, dass es zu den Notwendigkeiten vieler Menschen, wenn nicht der meisten, gehört, durch Literatur nicht zu vergessen.
daStandard.at: Ihre Werke beschäftigen sich vor allem mit der Veränderung. Zwischen Alt und Neu, Feudalismus und Modernität, vom ländlichen zum städtischen Leben - also auch dem, was wir heute modernen Iran nennen. Wo stehen Sie als Autor?
Doulatabadi: Ich stehe an der Grenze von Tradition und Modernität - im Herzen der Wahrheit. Diese Werte sind allerdings nicht von heute oder gestern, sondern gehen weit in die Vergangenheit des Iran zurück, mindestens 100 Jahre: Ich spreche von Modernität, Tradition, Gegensätzlichkeiten, aber auch Übereinstimmung, Kontrast sowie ihre Nähe und Ferne zueinander. Dieser Veränderungsprozess hat sich im Laufe der letzten 100 Jahre fortlaufend weiterentwickelt, die traditionellen Werte der Vergangenheit haben sich der Modernität angenähert. Dabei gab es sicherlich viel Schlechtes, aber es war nicht alles schlecht. Wichtig ist, die positive Modernität mit der positiven Tradition zu verbinden.
daStandard.at: Sie haben einmal gesagt, dass die authentischen Bilder, die Sie zeichnen, auch damit zu tun haben, wie Sie sich früher als Arbeiter auf dem Feld müde geschuftet haben. Was meinen Sie damit?
Doulatabadi: Durch die harte körperliche Arbeit, die ich in jungen Jahren verrichtet habe, habe ich gelernt, Arbeit an sich für wichtig und wertvoll anzusehen. Das hat mich auch in meinen literarischen Werken beeinflusst, allerdings habe ich keine direkte Verbindung zu ihnen hergestellt und möchte dies auch nicht tun. Denn wir könnten ja davon ausgehen, dass ich in keinem meiner Romane über mein privates Leben berichte, und trotzdem war ich davon beeinflusst.
daStandard.at: Sie saßen zwei Jahre im Gefängnis des Schah. Dort gab man Ihnen den Spitznamen "Mahmoud mit der goldenen Hand", weil sie 170 Mithäftlingen die Haare schnitten. Es scheint, als ob Sie sich sogar in dieser sehr ungewohnten Umgebung bald zurechtfanden.
Doulatabadi: Ich gehörte keiner speziellen politischen Strömung an. Deshalb konnte ich mit allen Gruppen im Gefängnis in Verbindung treten, sie kennenlernen - ich verstand mich gut mit ihnen. Für mich war es sowohl eine schlechte als auch gute Erfahrung: Der größte Schmerz aber war, dass ich Schreibverbot hatte, als ich inhaftiert wurde schrieb ich gerade an meinem Buch "Kelidar". Ich konnte mich nur auf mein Erinnerungsvermögen stützen, um das Gedachte erst Jahre später auf Papier zu bringen.
Es gab aber auch schöne Seiten, das Leben ist nun mal so, wissen Sie, es spielt sich immer zwischen Finsternis und Helligkeit, Hochs und Tiefs ab. Aber dieses Tief konnte ich glücklicherweise auch überwinden. Ich war jung, 32, konnte mit der Ausnahmesituation zurechtkommen.
daStandard.at: Im Iran stehen Kulturschaffende im besonderen Fokus der Zensur: Manche Künstler sagen, dass Zensur auch helfen kann, neue, kreative Wege einzuschlagen, um ihr zu entgehen. Was halten Sie davon?
Doulatabadi: Das ist vielleicht ein Aspekt, aber prinzipiell können wir nicht davon ausgehen, dass Zensur an sich etwas Gutes ist. Aber der Zensur entfliehen ist etwas sehr Gutes: In der Kunst ist das Brückenbauen und Barrierenüberspringen sehr wichtig. Unsere klassischen und modernen Schriftsteller konnten dies unter Beweis stellen. Die Erfolgreichen waren eben jene, die über diese selbstgeschaffenen Brücken gehen konnten.
Aber wir dürfen nicht glauben, dass Zensur an sich notwendig ist, um sich daneben künstlerisch zu entfalten. Denn sie wirkt sich ja negativ auf alle Beteiligten aus: auf den, der zensiert wurde, auf den Zensor selbst, auf die Gesellschaft - dann herrscht ein Misstrauen untereinander.
daStandard.at: Denken Sie persönlich die Zensur mit, wenn Sie schreiben, oder schreiben Sie so, wie Sie es sich denken?
Doulatabadi: Der Geist ist viel komplizierter und fähiger, ohne dass wir es wollen, beschäftigt er sich schon unterbewusst mit verschiedenen Tabus der Gesellschaft. Das gesellschaftliche Gewissen spiegelt sich in unseren Werken wider, dieses Gewissen bringt Menschen dazu, diese Rahmenbedingungen einzuhalten. Ich habe mich aber nie selbst zensiert und wurde es auch nicht.
daStandard.at: Welchen Einfluss hatten ausländische Autoren auf Sie?
Doulatabadi: Sie hatten viel Einfluss. Von Homer bis Beckett und Balzac. Zwei, die ich besonders schätze und die einen großen Einfluss auf mich hatten, waren Kafka und Camus. Auch die Literatur aus der Renaissance finde ich interessant, ich lerne ständig. Ich war auf keiner Uni und auch in keiner Schule, aber ich habe viele wertvolle Bücher gelesen. Ich bin wie der Erdboden, nehme alles auf, die Sonnenstrahlen, den Regen, und wenn die Erde bebt, dann bekomme ich Risse.
daStandard.at: Welchen Stellenwert räumen Sie der iranischen Literatur in der Weltliteratur ein?
Doulatabadi: So ein Urteil möchte ich mir nicht erlauben, da ich ja alles hätte lesen und studieren müssen, um es zu bewerten. Die Literatur des Iran ist jedenfalls eine der Stimmen, die es in der Welt gibt, und jemand, der sich für Literatur interessiert, findet auch zur iranischen Literatur - denn sie ist sehr tiefgründig und fein. (Toumaj Khakpour, 21.11.2013, daStandard.at)