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Gefühllosigkeit ist ein Gefühl

Porträtzeichnung

Unser Autor Tom fand zwei Jahre lang keine Worte dafür, was er hier im Text aufgeschrieben hat. Im Laufe seiner tiefenpsychologischen Therapie und eigenen Reflexionsversuchen gelang ihm Anfang diesen Jahres der Sprung raus aus der Ego-Ebene und das Erlebte aus der Vogelperspektive zu betrachten. Dieses Essay erschien zunächst im Mantis Magazine #11. Für die Veröffentlichung hier auf meinTestgelände ist er nach gut einem Vierteljahr nochmal in das Thema eingestiegen und versuchte sich bewusst zu machen, was das Aufschreiben dieser Geschichte mit ihm gemacht hat.

Berlin 2019: Als ich gewusst habe, ich fahre, da dachte ich, es kann nur besser werden, doch es kam schlimmer. Schlimmer als all die schlaf-gestörten Nächte, die ich erlebt hatte, während ich die Lebensgeschichte eines anderen aufgeschrieben habe. Schlimmer als die Zurückweisung der für mich damals wichtigsten Person in meinem Leben in einer neuen Stadt, die mich gleichzeitig ermattet und überfordert hat. Schlimmer als die Angst, dass ich nie wieder aus dem Bett kommen werde, das mich in der Zeit angezogen hat wie ein Magnet ein tonnenschweres Auto anzieht, kurz bevor er das Fahrzeug loslässt, kurz vor dem determinierten Fall in die Schrottpresse. Ich hatte Angst, niemandem in meinem Leben und schon gar nicht mir selbst gerecht werden zu können, Angst vor Arbeitslosigkeit, Energielosigkeit und Verlust. In diesem Moment kam keine meiner früheren Aggressionen zum Vorschein. Keine Emotion, die durchbricht. In diesem Moment war ich leer und mein Kopf voller Gedanken, die mir das Gefühl gaben, er explodiert bald. Ich bin implodiert. Habe mich selbst in Ketten gelegt, um die Auswirkungen des Schadens zu spüren und war gefangen in meinem Dasein als weißer, konservativ sozialisierter, 23-jähriger von Geburt an männlich gelesener, deutscher Student aus einem nicht-akademischen Haushalt ohne Migrationserfahrung. Ohne Emanzipationserfahrung.


Den Begriff „Emanzipation" definiert der Duden mit: „Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit; Selbstständigkeit; Gleichstellung." In gesellschaftlichen Debatten wird dabei meist nur die Emanzipation der FLINTA ( cis Frauen, Lesben, Intersexuelle, Nonbinäre Menschen, trans Personen und A gender) diskutiert. Diese Bewegungen sind global, entwickelten sich über Jahrhunderte weiter und dauern bis heute an. FLINTA kämpfen für ihre Rechte. Sie kämpfen gegen die strukturelle Diskriminierung und Unterdrückung im Patriarchat. Und CIS-Männer? Sie mussten nie für ihre Rechte kämpfen, sie halten Macht und Privilegien bis heute inne.


Verinnerlichte Rollenbilder, verinnerlichter Druck

Meine Glaubenssätze, wie „Sei ein Mann" (sei stark, sei tapfer, sei hart, sei bestimmt, sei abgesichert und setze dich solange gegen alles und alle anderen durch, bis du bekommst, was du willst), verfestigten sich mit der Zeit, wie Grabsteine aus flüssigem Beton, in meinem Bewusstsein. Sie waren das Symbol vom Tod meiner Hoffnung. Der Hoffnung auf „Nicht sein zu müssen, wie es vom außen erwartet und mir zugeschrieben wird. Vielmehr so sein zu können, wie ich es im Inneren bin und fühle."


Mit dem Umzug nach Berlin wollte ich aus dieser Sozialisation ausbrechen. Den Ausbruch aus Bayern, den Ausbruch meiner seit Jahren unterdrückten Gefühle erzwingen. Aus dem Zwang mir selbst gegenüber brach ich ein und schon im ersten Jahr meiner Ankunft in mich zusammen. Unter der Saugglocke in meinem Bett, betäubt von Dokus und Serien sah ich mich, gut 10 Jahre später, Anfang/Mitte Dreißig und immer noch im selben Bett liegend. Ich sah, wie ich mich immer noch quälte, von journalistischer Arbeit leben zu können, weil das in all den Jahren das Einzige war, was mich ausmachen würde. Zumindest in meinem Kopf.

Ich wollte heulen. Ging nicht. Wollte all das vergessen, was sich wie mit einem Vorschlaghammer in meine Gedanken schlug. Wollte loslassen. Dabei hatte ich Pläne, auf die ich mich freuen sollte. Ich stand kurz vor dem Aufbruch in die Ukraine. Hatte die Zusage für ein interkulturelles Projekt im Hinterland der Karpaten. Hatte den Anreiz, mein Bett zu verlassen.


Zurück in Berlin, Südkreuz, Februar 2019: Als der Zug sich in Bewegung setzte, begann das Grübeln wieder. Ein Gedankenchaos, das sich wie ein gefährlicher Strudel auf hoher See in meinem Kopf ausbreitete und mich in ein tiefes Loch ohne sichtbaren Boden hineinzog. Ich war beschämt. Beschämt von mir und meiner Vergangenheit, beschämt von meinen Eigenschaften als Mann im Patriarchat, beschämt von all den Ungerechtigkeiten in der Welt. Lange Zeit fühlte ich mich als Opfer, in dem Moment sah ich nur den Täter in mir. Ich habe schwarz oder weiß gedacht, schwarz oder weiß gefühlt, die Welt nur schwarz oder weiß gesehen. Da war kein grau mehr. Kein warum? Nur eine Ohnmacht, die mich bewegungsunfähig machte.


„Ich muss etwas ändern", dachte ich. „Jetzt!

Ich wollte mir Hilfe von außen holen, eine Therapie machen oder so. Wollte einen gesunden und nachhaltig anhaltenden Weg aus meinem Leid finden und mich von dem durchdringenden Schmerz befreien. Einen Augenblick später tippte ich die E-Mail an die Kassenärztliche Vereinigung Berlin:


Sehr geehrte Damen und Herren, ich befinde mich aktuell in einer Phase der extremen Antriebslosigkeit und habe durch Gespräche mit Freunden festgestellt, dass es depressive Anzeichen sind. Ich weiß nicht mehr weiter... Viele Grüße


Wirklich weitergekommen bin ich in diesem Jahr nicht mehr. Aus Nachhaltigkeit wurde ein Feuerwerk aus Ablenkungen und Kompensationen. Die Bilanz: eine abgebrochene Therapie, eine zweimal beendete romantisch-polygame Beziehung, ein weiteres unbezahltes Praktikum, um mich doch noch im Berufsfeld des Journalismus irgendwie zu etablieren. Und viele Fluchtwege aus meinem Kummer. Darunter: Sieben Festivals im Sommer, sechs Länder bereist und eine Menge abgestumpften Sex auf der Suche nach Nähe und Geborgenheit. Auf der Suche nach einer flauschigen Decke, die mich wohlwollend umhüllt und mich die Welt da draußen für einen Moment vergessen lässt. Auf einen Arm, der mich auffängt und sich um mich legt. Auf einen Neustart. Das Feuerwerk knallte laut und zog in bunten Farben wie Blitze in der Dunkelheit an meinen Augen vorbei. Einen Augenblick war alles um mich herum wieder dunkel. War vergessen. Zurück blieben Asche und das Verlangen nach dem nächsten Kick.


Mitte des Jahres sah ich, dass kein Kick der Welt mich zurück in die Bahn kickt. Stattdessen lag ich betäubt am Straßenrand. Mit dem nächsten Auslandsprojekt, der nächsten Flucht vor mir selbst, schwor ich mir 3 Monate auf viele dieser Ablenkungen zu verzichten. Kalter (Sex)entzug. In der Hoffnung, ich wäre danach dazu fähig, den Neustart-Button drücken.

2020 ist alles anders. Alles besser?

Januar 2020 in Berlin: Ich drückte den Neustart-Button. Eine neue Therapie, neues Bewusstsein für Freundschaften, regelmäßiger Ausgleich durch Theaterarbeit und Schwimmen. Und Sexualität nur nach Gefühl. Nicht um meine Leere zu kompensieren oder meine Unsicherheiten, meinen Zweifel und meinen Hass auf mich selbst. Nein, diesmal will ich anfangen mich zu lieben, mich fair und wertschätzend zu behandeln. Und nicht nur mir zu verzeihen.


Nicht mehr der Mensch sein, der abends, weil er „nichts Produktives" geschafft hat, die Verabredung mit seinen Freunden aus Scham absagt und ohne Essen versucht zu schlafen. „Das hast du dir nicht verdient", sagte meine immer lauter werdende innere Stimme damals.

Nicht mehr der Mensch sein, der sich selbst durch Erfolg im Job, Geld und in Sex bemisst. Das Credo „höher, schneller, weiter" sollte aus meinen Lebensplänen gestrichen werden. Ebenso die „Base-Theorie", bei der es darum geht, wie bei einer Checkliste, bei Dates meine Gegenüber möglichst „sicher" zum Sex zu motivieren. „Wenn ich mit einer Frau schon im Bett liege, muss ich auch mit ihr schlafen. Auch, um dann mir selbst und anderen etwas zu beweisen." Eine Theorie aus meiner Kindheit und Jugend, die in meinem damaligen Umfeld heteronormativ und patriarchal kultiviert wurde. Ansonsten warst du als Mann schwach und uncool. Mann macht den ersten Schritt. Mann macht die Show. Mann muss eine Strategie haben, um mit Frau intim zu werden. Was ich heute sofort in die Schublade der Pick-Up-Artists packen würde, war zu Jugendzeiten die Norm. 2020 war ich absolut dagegen. Gegen Diskriminierung aller Art.


Dennoch fällt es mir auch heute noch schwer, meinen eigenen moralischen Ansprüchen zu genügen und eine klare Meinung zu all den Themen zu finden. Politisch und gesellschaftlich: Je mehr Perspektiven, Bildungsfaktoren, Sozialisationen und Lebensrealitäten ich gesehen habe, desto weniger konnte ich mir eine sachliche Meinung darüber bilden. Desto weniger konnte ich im Kopf rational bleiben, auch wenn in eigenen Krisenzeiten auf meinen Rationalen Autopilot immer Verlass ist. Bis heute. Selbst, wenn ich dagegen ankämpfen will. Ist der Schmerz zu groß, schaltet er um. Rationalisiert und legitimiert mein Verhalten, selbst, wenn ich damit geliebten Menschen an meiner Seite nachhaltige Schmerzen zufüge. Er redet mir ein: „Ich bin der Gute."

Sichtbare Wut, unsichtbarer Schmerz.

Letztendlich kamen die Symptome und die Probleme gar nicht so plötzlich und erst recht nicht die Einsicht, was dagegen zu tun. Ich unterdrückte, seitdem ich denken kann, viel. Nicht bewusst, sondern aus mangelnder Sensitivität. Aus mangelnder Durchlässigkeit und mangelndem Mut, der Mensch zu sein, der ich bin und so zu sein, wie ich bin. Mehrdimensional. Als Mann, als Sohn, als Bruder, als Freund oder als Boyfriend. Mit harten Seiten und mit weichen. Mit zahlreichen Männlichkeiten und ebenso vielen Weiblichkeiten. Mit Gefühlen, die nicht immer sichtbar an der Oberfläche waren und es bis heute noch immer nicht sind. Seit ich denken kann, war ich wütend. Als Kind der Giftzwerg, der sich ausspinnen soll und erst dann wieder kommen darf, wenn er wieder „normal" ist, später als junger Erwachsener, der Igel mit ausgefahrenen Stacheln, der nicht wirklich einen Menschen an sich ran lässt, zwischenmenschliche Beziehungen schnell wieder abbricht oder gar nicht erst annimmt. Demut und Versöhnungsgedanken, Fehlanzeige. Heute ziert eine tiefe Zornesfalte mein Gesicht.

Doch mein Zorn war nur die sichtbare Spitze eines Eisberges, gegen den selbst mein Autopilot nicht mehr ankommen konnte. Unsichtbar aber da und unterhalb der Wasseroberfläche verbarg sich meine Trauer. Meine Angst und meine Scham. Damals wurde mein Verhalten von außen meist mit Unverständnis bewertet, irgendwann tat ich es selbst nach innen. Ich verstand mich nicht. Verstand nicht, wer dieser Mensch sein mag, der in seinen Wutausbrüchen so in sich zusammen fällt. Der insgeheim nach Hilfe ruft, einen Ausweg aus seiner selbst sucht und dies in seiner Verzweiflung anmaßend als Drohung ausspricht und manipuliert. Der Mensch, der so viele Menschen, die ihm etwas bedeuten, aktiv verletzt hat und es kurz darauf wieder bereute, aber nicht fähig war, diese Reue zu kommunizieren. Ich war passiv und still. In diesen Momenten war nur eines größer als die Scham. Der Selbsthass.


Ich hasste bis zu meinem unausweichlichen Zusammenbruch 2019 im emotionalen Chaos. Aus mir selbst heraus konnte ich mir nicht helfen und die Reisen oder auch Flucht- und Kompensationsbewegungen nach Außen bewiesen letztendlich nur eines. Ich brauche Hilfe. Spezielle Hilfe. Bei einer meiner Tramperfahrungen lernte ich einen erfahrenen Psychotherapeuten kennen. Er war damals so um die 60 Jahre alt und auf dem Weg zu einem Fachkongress in Berlin, bei dem er selbst einen Vortrag gehalten hat. „Du bist anders", meinte er damals, „anders als 90% der Menschen in deinem Alter." Dementsprechend brauchst du auch eine therapeutische Hilfe, die mit deinem Lebensstil vertraut ist und ihn anerkennt." Bevor er mich in Berlin Mitte absetzt, erzählte er mir noch etwas von einem Stürmer und Dränger in mir, abgeleitet aus der Historischen Epoche des Sturms und Drangs. Ich war mehr als verwirrt.


Meine Emanzipation: Ich bin am Anfang, aber ich hab angefangen

Heute kann ich es immer noch nicht nachvollziehen, wie er mich gesehen hat. Für mich aber zählt: Er hat mich gesehen und letztendlich mich dazu motiviert, einen zweiten Therapieversuch im Januar 2020 zu starten. Eine Stütze, die mir bis heute Stabilität gibt. Aus dieser Stütze entstanden weitere Inseln in einem weiten Meer der Außenwelt und näherem Umfeld in Berlin; Lübeck und an weiteren Orten, an denen mir auf meiner Lebensreise die Türen geöffnet und die Hand gereicht wurde. Orte, wo ich willkommen bin und immer noch aufgefangen werde, wenn ich mich danach fühle und den Mut habe, um Hilfe zu fragen. Sie aber auch anzunehmen gelingt mir nicht immer, Scham, Angst und Sorgen sind noch da, auch wenn der Hass langsam sich auflöst, wie der Nebel an einem kalten sonnigen Morgen im Frühling. Was neu ist, ist die Zuversicht. Die Zuversicht, dass alles gut wird, auch wenn ich meiner Oma damals nach dem Ausspruch dieses Satzes selten geglaubt habe. Vor allem, wenn ich dachte, ich bin kurz davor in den Fluten des Neuen, Aufregenden, Experimentellen und sich ständig veränderten Meeres zu ertrinken. Heute kann ich sagen:, Ich liebe es, in diesem Meer zu schwimmen, tief einzutauchen und mich auch mal treiben zu lassen. Mich frei zu bewegen und frei zu fühlen. Dennoch brauche ich Inseln, um nicht in der Flut, die dieses Leben mit sich bringt, unterzugehen. Eine Insel, auf der ich mich zu Hause fühle. Eine Insel, auf der ich individuelle Familiengefühle spüre. Eine kreative Insel für Theaterarbeit, Körperarbeit, Kunst und Experimente. Eine Insel, auf der ich soft sein und auch Schwäche und Emotionen zeigen kann und auch lernen kann, diese zu zeigen. Eine Insel, auf die ich zu jeder Zeit hin kann, wenn's mir schlecht geht. Mit maximalem Vertrauen, Aufrichtigkeit und Respekt vor den Lebensrealitäten und Umständen anderer. Für das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Lebendigkeit und der Lust, alle Parameter nach Lebensphase und Gefühl frei und selbstständig justieren zu können. Eine Inselgemeinschaft. (M)ein Leben lang.


Essay, verfasst am 08.02.2021, überarbeitet am 20.07.2021 
Original