Vor knapp anderthalb Jahren hat ChatGPT das Licht der Welt erblickt, mitten im Wintersemester, ganz ohne Warnung. Plötzlich war da eine KI für jeden zugänglich, die scheinbar auf jede Frage eine Antwort findet. Technologie, die sich anfühlte wie aus der Zukunft. Skeptiker haben die Schwächen der KI betont. Und Dozenten nur mit den Schultern gezuckt, weil niemand wusste, was jetzt passiert.
So wirklich wissen tut das aus meiner Perspektive auch heute noch niemand. Einheitliche Regelungen für KI an der Uni gibt es nicht. Nach anderthalb Jahren stehen wir immer noch ohne einen Plan da, wie mit dieser Technologie umzugehen ist. Und währenddessen ist der Chatbot deutlich besser geworden: Die kostenpflichtige Variante hat jetzt auch Zugang zum Internet, damit produziert ChatGPT noch aktuellere Texte. Die Technik entwickelt sich. Schneller, als an den Unis mitgedacht wird.
Der Chatbot schreibt prima Texte, mit denen Hausarbeiten, Essays und sogar Bachelorarbeiten angefüttert werden können. Texte zusammenfassen klappt auch gut. Das wurde schon vor anderthalb Jahren gemacht. Neu ist aber, dass der Chatbot auch in Seminaren und Vorlesungen angewendet wird.
Diese Sätze entlarven einen sofortImmer wieder beobachte ich, wie sich Kommilitonen schnell eine Antwort auf die Unterrichtsfragen ausspucken lassen - und manchmal sogar anschließend melden. Oder sie fragen kurz vor der Veranstaltung ChatGPT, was das eigentlich für ein Text ist, den wir zur Vorbereitung lesen sollten. Neu ist auch: Arbeiten meiner Freunde muss ich nicht mehr gegenlesen. Der Chatbot findet viel schneller Grammatik- und Rechtschreibfehler als ich.
In kürzester Zeit hat der Chatbot viel bewegt - und unseren Uni-Alltag ziemlich frisiert. Mittlerweile habe ich den Bot auch überall installiert: Auf meinem Handy, dem Laptop und dem Tablet. Die KI hilft mir schon lange nicht mehr nur in der Uni. Ich frage den Bot, wie lang mein Fisch im Ofen braucht oder ich frage ihn nach einer Zusammenfassung der Handlung des ersten Dune-Films. Ich bedanke mich sogar beim Bot für seine Arbeit.
Damit bin ich nicht alleine. Eine aktuelle Befragung des Digitalverbandes Bitkom hat ergeben: Zwei Drittel der Studierenden benutzen ChatGPT. Nur gut ein Drittel konnte von Regeln an ihrer Hochschule berichten. Der Bot ist also vom Campus nicht mehr wegzudenken. Aus der Forschung aber auch nicht.
Der Chatbot hat Eigenheiten, die sich leicht wiedererkennen lassen. Nutzt man das alte KI-Modell, weist der Bot einen darauf hin, dass er keinen Zugriff auf Echtzeitdaten aus dem Internet hat. Spuckt er dann etwas aus, beginnt der Text mit „As of my last knowledge update ...". Wer plant, einen von KI generierten Text woanders zu verwenden, streicht diese Sätze einfach raus. Denn sie entlarven einen sofort. Wer das Streichen vergisst, hat ein Problem.
Dozenten sehen wegGoogle Scholar ist die erste Anlaufstelle für alle wissenschaftlichen Recherchen. Gibt man dort die entlarvenden Sätze ein, werden 202 wissenschaftliche Artikel ausgespuckt. In jedem dieser Artikel steht der gleiche Satz. Gibt man den typischen Satz „Ich habe keinen Zugriff auf Echtzeitdaten" in die Suchmaschine auf Englisch ein, finden sich nochmal 32 weitere Artikel. Scheinbar hat sich niemand darum bemüht, die Spuren der KI zu verwischen.
Diese neue Technologie ist also schon bei uns allen angekommen und wird links und rechts fleißig zum Schummeln, Mogeln aber auch zum Lernen benutzt. Auf Tiktok berichten Studis davon, wie toll die kostenpflichtige Variante des Chatbots ist - damit lassen sich noch bessere Texte generieren. Und jetzt scheinen schon selbst Forschende auf die KI zurückzugreifen.
Ich bin enttäuscht von meiner Uni, dass es nicht schon längst klarere Richtlinien gibt. Niemand von uns weiß, wofür und wie wir den Bot überhaupt benutzen dürfen. Dozenten sehen weg, kennen sich nicht aus, zucken noch immer mit den Schultern und verweisen auf die Uni-Leitung. Und die ist ziemlich still. Klar ist auch, dass sich etwas an der Prüfungskultur ändern muss, damit Abschlüsse auch fair und vergleichbar bleiben. Viele kann das verunsichern.
Was ist mein Studium überhaupt noch wert?Die Verantwortlichen manch anderer Einrichtungen waren schneller: Einige private Hochschulen setzen schon KI-Lernassistenten ein. Die Uni Prag hat für neue Studierende der Betriebswirtschaft gleich mal die Bachelorarbeit abgeschafft. Auch die Uni Münster möchte einen eigenen KI-Bot anbieten. Die Uni Hamburg hat an rund 60.000 Beschäftigte und Studierende Zugänge für den Bot verteilt. Solche Versuche gibt es mittlerweile einige. Aber: Es fehlt an klaren Linien. Keiner weiß, was überhaupt erwünscht, erlaubt und verboten ist.
Aber: Was ist mein Können und mein Studium überhaupt noch wert, wenn ein Chatbot den Großteil meiner Aufgaben übernehmen kann? Was bringt es dann noch, hier Zeit zu investieren? Werden wir in Zukunft überhaupt noch etwas lernen, wenn wir den kompletten Wissens- und Lernprozess an einen Chatbot abgeben? Sich etwas aufzuschreiben, etwas nachzuschlagen, nachzudenken: Nur so bleibt Stoff hängen. Was ist, wenn ChatGPT all das in Zukunft überflüssig macht?
Es gibt noch viele Fragen, die wir dringend beantworten müssen. Zum Beispiel, ob KI uns in Zukunft besser macht oder dümmer. Einen Teil der Weichen müssen jetzt gestellt werden. So schnell wie möglich. Wann reagieren die Hochschulen endlich?