Du blickst in den Abgrund. Die Aussicht könnte schöner sein. Dann schreist du hinein, doch dieser Abgrund, der dich zu verschlingen droht, schweigt. Er antwortet nicht. Es ist zum Verzweifeln. Man möchte einfach hineinspringen, und in seine Dunkelheit eintauchen, eins mit dem Abgrund werden.
So in etwa dürfte es der Protagonistin in Anna Jadowskas Film Wilde Rosen ergehen. Die Regisseurin fokussiert den Alltag einer jungen polnischen Frau auf dem Land. Die 27-jährige Ewa (Marta Nieradkiewicz) kehrt nach einem Krankenhausaufenthalt zu ihren Kindern sowie zu ihrer Mutter zurück und stößt auf ein ihr gegenüber recht befremdlich erscheinendes Umfeld. Dieses Umfeld spricht hinter vorgehaltener Hand über sie und ihre Liebschaft mit dem 16-jährigen Marcel. Mit der Erziehung von Tochter und Sohn steht sie weitestgehend alleine dar, denn ihr Mann Andrzej (Michał Żurawski), der nur selten zu Hause ist, arbeitet im Ausland, um seinen Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen.
Wilde Rosen ist sozialrealistisches Arthouse-Kino, das die Lethargie und Wünsche seiner Protagonistin sowie die Konflikte innerhalb der Familie ausleuchtet. Je ruhiger die Kamera, desto stärker werden die seelischen Bruchstellen im Mikrokosmos Familie und insbesondere bei Ewa deutlich. Die eingefangenen Blicke erzählen Geschichten, die geheim bleiben wollen. Im Krankenhaus starrt Ewa mit leerem Blick an die Wand. Auf der Kommunionsfeier ihrer Tochter ist für Ewa nicht mal ein müdes Lächeln drin, auch nicht auf dem hier geschossenen Familienfoto.
Der Grat zwischen familiärer Dysfunktionalität und scheinbarer Harmonie ist ein schmaler. Ablenkung vom tristen Alltag sieht Ewa einzig und allein im Pflücken von Rosenblättern.
Auch für das Publikum sind diese Ausflüge kurzweilige Fluchten aus der Tristesse des Alltags der Protagonistin. Die Natur als Balsam für die Seele. Die Bienen surren und bestäuben die Blüten. Die Vögel zwitschern. Die Sonne scheint. Und inmitten des labyrinthischen Rosenfeldes liegen Ewa und ihr kleiner Sohn Jasiu. Kleine Fluchtpunkte des „Bei-sich-selbst-sein-Dürfens", die die Kamerafrau Małgorzata Szyłak in ruhigen Bildern einfängt.
Die Momente der Ruhe werden von der Traurigkeit des Alltags aber immer wieder eingeholt. Da ist die Liebelei mit Marcel, einem hoffnungslos verliebten Pubertierenden, in einer der verwinkelten Ecken des Rosengartens. Die Kamera folgt ihnen, hält den kurzen leidenschaftlichen Moment zwischen den beiden fest. Ihre Küsse sind Explosionen und zugleich Erschütterungen von Ewas Innerem. Der Wunsch der jungen Frau nach Nähe zerschellt an ihrer emotionalen Distanziertheit.
Zum Ende hin nutzt Regisseurin Jadowska das dramatische Verschwinden des kleinen Jasiu, um die Situation des Paares derart zuzuspitzen, dass nun explizit wird, was zu Beginn nur angedeutet blieb: Diese Familie ist kaputt. Der Abgrund ist größer denn je.
Das sehr überraschende und offene Ende, das den Bogen zum Anfang schlägt, lässt genügend Raum für Spekulationen. Am Ende trifft Ewa eine Entscheidung. Es ist eine, die ihr Leben verändert wird. Ein möglicher Schritt in Richtung Erwachen aus Lethargie und Hoffnungslosigkeit. Doch im Sozialrealismus liegen Scheitern und Hoffen ganz dicht beieinander.
Du blickst in den Abgrund. Es tut weh. Doch ein Aufbruch zu neuen Ufern ist möglich. Wilde Rosen zeigt, dass der Blick in die Abgründe ein durchaus sehenswerter sein kann.
von Tobias Ritterskamp
Wilde Rosen: PL 2016, 93 Min., R: Anna Jadowska